Zu zehnt unter einem Dach: So organisiert sich eine Bielefelder Großfamilie

Bielefeld. Wenn der sechsjährigen Eva Meyer zur Müdehorst langweilig ist, dann läuft sie durch das alte Bauernhaus ihrer Familie und klopft nacheinander an diverse Zimmertüren. Irgendeines ihrer sechs Geschwister hat in der Regel Zeit für das Nesthäkchen, das ein Gefühl in seinem Leben nicht kennt: Allein zu sein. Mit ihren Eltern, drei Schwestern, drei Brüdern, dem Partner einer Schwester, zwei Katzen, vier Hunden, Dutzenden Schafen, Hühnern und Gänsen und einer zahmen Ratte lebt Eva auf einem Bauernhof im Bielefelder Westen ein Leben, das an eine Mischung aus "Bullerbü" und "Kevin allein zuhaus" erinnert.

"Das Chaos akzeptieren und Mut zur Lücke haben." Das ist die Antwort von Kerstin Meyer zur Müdehorst, wenn man sie fragt, wie sie all das schafft. Ein Lachen schickt sie auch noch hinterher. Und mit Sicherheit brauchen sie und Ehemann Kim Humor, um dieses XXL-Leben zu meistern. Denn nicht nur die Großfamilie, auch der landwirtschaftliche Betrieb und das riesige Hofcafé wollen organisiert sein. "Ohne meine Listen wäre ich verloren."

Sie stapeln sich auf dem großen Esstisch in der Wohnküche, dem Zentrum der Familie, daneben hängt der riesige Familienkalender, der gespickt ist mit Terminen. Besonders morgens geht es hier zu wie in einem Taubenschlag. Als Erstes verlässt der 23-jährige Jan, der Älteste, das Haus. Ihm folgen die Schulkinder: Mia (15) und Ida (11) müssen zur Realschule nach Jöllenbeck, Ole (13) fährt zur Gesamtschule nach Werther, Nesthäkchen Eva, seit dem Sommer ein Schulkind, muss nun auch früh los. Die Kaffeemaschine läuft auf Hochtouren, besonders Vater Kim braucht morgens Koffein. Hund Penny wuselt um die Beine, will gestreichelt werden. Mutter Kerstin schmiert Brote, unterstützt von Tochter Katrin (22), die wie ihr Bruder Tore (19) später zur Uni fährt und sich vorher auch um das Frühstück für ihren Freund Leon kümmert. "Der schläft ganz gern länger."

Das beliebte Hofcafé in Bielefeld macht am meisten Arbeit Planung ist hier alles. Das beginnt schon mit der Fahrerei. Denn eigentlich kommen die Großen alle allein mit den Bussen zu ihren Schulen. Allerdings schafft Ida das nicht an den Tagen, wenn sie Posaunenunterricht hat, das Instrument ist zu groß und zu schwer. "Dann bringe ich sie", sagt Mutter Kerstin. Danach fährt sie Eva mit dem Fahrrad zur Schule. Und danach kommt er, der erste ruhige Moment des Tages – kurz, aber nötig. "Dann setzen wir uns an den Tisch, trinken einen Kaffee und überlegen, was ansteht, was eingekauft werden muss, welche Termine bevorstehen."

Die meiste Arbeit macht das große Café, das im ehemaligen Haupthaus des Hofes, einem riesigen Fachwerkbau, untergebracht ist. 26 Mitarbeiter beschäftigen die Meyer zur Müdehorsts, an vier Tagen in der Woche fallen Besucherscharen für Tortenschlachten auf der Deele und im Bauerngarten ein. Zusätzlich kommen an den Wochenenden abends private Feiern und Hochzeiten hinzu. Ohne Hilfe auch aus der Familie aber geht das nicht.

Vater Kim hat deshalb seinen Job als IT-Administrator aufgegeben, kümmert sich viel um die Buchhaltung und packt im Service mit an. Auch Tochter Katrin arbeitet hauptsächlich im Service, "das macht mir am meisten Spaß." Theoretisch aber könnte sie auch die üppigen Torten backen, denn vor ihrem Sonderpädagogik-Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Konditorin. Und auch Tore packt viel in der Küche mit an, als Spülhilfe, "und außerdem ist er unsere Eisfee", sagt Mutter Kerstin lachend. Zusätzlich fallen die Gänse, die gemeinsam mit den Schafen auf der großen Streuobstwiese leben, in sein Revier.

Bald ziehen zwei Kinder aus Besonders stressig sind die Wochenenden. Absoluter Ausnahmezustand: Freitags- und Samstagsabends Feiern, Samstags- und Sonntagsmorgens Frühstücksbuffet. Heißt: Ab vier Uhr nachts müssen die Spuren der Partys beseitigt werden, damit die Gäste ab 9.30 Uhr frische Brötchen auf sauberen Tischen verzehren können. In der Regel übernehmen Vater Kim und Katrin die Nachtschichten, Mutter Kerstin den Morgen. "Aber trotz dieser Regelung müssen wir schon mal mit nur zwei Stunden Schlaf pro Nacht auskommen", so Kim Meyer zu Müdehorst.

Die 22-jährige Katrin kennt es nicht anders und will es auch gar nicht anders haben. Deshalb ziehen sie und ihr Freund Leon zwar bald aus - allerdings nur vom Haupthaus in ein Nebengebäude auf dem Hof. "Ich liebe den Trubel hier. Es ist nie langweilig und es ist immer jemand da, mit dem man etwas machen kann." Und so packt sie, wie an einem freien Abend neulich, auch mal einfach alle ihre Geschwister in den großen Familienbus und unternimmt mit ihnen einen Ausflug ins Kino. "Die Vorstellung ist wegen technischer Probleme leider ausgefallen. Aber dann haben wir einfach einen Filmabend zuhause gemacht."

Ihr Bruder Jan ist anders. Auch er wird ausziehen, wenn er seine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker fertig hat – in eine Wohnung ganz für sich, weit weg vom Bauernhof. Aber wird das nicht furchtbar ruhig und einsam? "Das ist der Plan", sagt er und grinst. Und irgendwie versteht man ihn, schaut man auf die Instrumente, die die gesammelte Familie Meyer zur Müdehorst im Repertoire hat: Thore spielt Gitarre, Ida Posaune, Mia Flöte, Klarinette und Schlagzeug, Ole Akkordeon. Und Vater Kim ist vor dem Fernseher ein lautstarker Fußball-Fan.

Und Mutter Kerstin? Was macht die, wenn sie Zeit für sich hat? Bei dieser Frage überlegt die 46-Jährige lange. "Eigentlich gibt es diese Zeit nicht. Aber ich kenne das auch nicht anders. Vielleicht wäre es mir mittlerweile sogar unmöglich, einfach mal still zu sitzen." Wichtig ist ihr, dass die Familie regelmäßig zusammenkommt. Denn obwohl alle unter einem Dach wohnen, ist das gar nicht so häufig. "Wir versuchen, immer zusammen Abendbrot zu essen." Den Anspruch, dann immer frisch gekocht zu haben, hat sie aufgegeben. "Das bleibt auf der Strecke. Und wenn man beruflich schon so viel mit Bewirtung zu tun hat – dann muss die Familie im Zweifel abends auch einfach mal die übrig gebliebenen Schnittchen von der Trauerfeier im Café vertilgen." Sie sagte es ja: Eben das Chaos akzeptieren und Mut zur Lücke haben.

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