„Aus dem Leben gerissen“: Bielefelder Familie leidet an rätselhafter Krankheit

Bielefeld. Für den 22-jährigen Marvin ist sein Jugendzimmer seit zehn Jahren der häufigste Aufenthaltsort. Mit schwerer körperlicher Schwäche, Schmerzen an Muskeln und Gelenken und vielen anderen Symptomen ist es ihm nicht möglich, ein Leben wie seine Altersgenossen zu führen. Marvin leidet an der rätselhaften Krankheit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom).

Genauso wie sein jüngerer Bruder Levin, der zwei Jahre nach dem großen Bruder mit zehn Jahren ebenfalls Symptome zeigte. Und als ob es nicht schlimmer kommen könnte, ist die Bielefelder Familie nun dreifach betroffen, denn auch Mutter Britta K. (51) hat seit einem Jahr die Diagnose ME/CFS. Seit ihrer Jugend beobachtete sie einen eher schleichenden Verlauf der Krankheit, für die zunächst niemand einen Namen hatte.

Vater hält alles am Laufen Nur der Vater ist gesund und hält die Familie finanziell am Laufen. Während bei Marvin eine einfache Bindehaut-Entzündung den Beginn der Krankheit markierte, könnte bei Levin ein Magen-Darm-Infekt Auslöser gewesen sein. Er konnte keinen angemessenen Schulabschluss erreichen, &bdquo;was auch der Starre des Systems geschuldet ist“, sagt seine Mutter Britta K. Betroffene der schlecht erforschten Krankheit, die Marvin erwischte, leiden auch an Konzentrations- und Kreislaufstörungen, dem so genannten &bdquo;Hirnnebel“, und an grippeähnlichen Symptomen.

&bdquo;Mit der Zeit haben wir eine Ärzte-Odyssee hinter uns gebracht“, berichtet die Bielefelderin. Doch kaum ein Arzt kennt sich mit dem Phänomen aus. Bis die Diagnose ME/CFS feststand, vergingen Jahre, in denen unsichere Mediziner den Jungen immer wieder in die &bdquo;Psychoecke“ rückten.

&bdquo;Beide waren topfit und machten Leichtathletik“ &bdquo;Beide waren topfit und haben Leichtathletik gemacht. Von heute auf morgen wurden sie einfach aus dem Leben gerissen.“, berichtet die Mutter. Britta K. kämpft, wenn ihre Kräfte es zulassen, unermüdlich in Betroffenengruppen für eine breitere Anerkennung und umfangreichere Erforschung der Krankheit: &bdquo;Ohne viel mehr Geld für die Forschung kommen wir den Ursachen nicht auf den Grund. Basis für die Entwicklung zielgerichteter Medikamente“, erklärt sie.

Seit der Corona-Pandemie hat das Thema mehr Aufmerksamkeit erhalten, weil es viel mehr von ME/CFS-Betroffene gibt. Auslöser sind Viren (oder die Corona-Impfung), die das Immunsystem triggern. Schätzungen gehen nun von 500.000 Betroffenen allein in Deutschland aus, rund 250.000 sind sozusagen &bdquo;Altfälle“, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Auch Post-Covid kann in die chronische Krankheit münden, für die es bislang keine Heilung gibt.

Vor der Pandemie Erkrankte müssen kämpfen &bdquo;Das Thema rückt nun immerhin aus der Tabuzone“, so Britta K. Doch den Umgang mit dem Thema seitens der Politik empfinden viele Betroffene dennoch als zynisch. Zwar habe das Bundesgesundheitsministerium (BMG) unter Karl Lauterbach es nun auf die Agenda gehoben – allerdings eher in der Manier einer Zwei-Klassen-Medizin.

Denn: Es sind bereits Medikamente auf dem Markt, die für andere Erkrankungen entwickelt wurden. Sie lindern nachweislich auch bei ME/CFS-Erkrankten einen Teil der Symptome. Doch das BMG empfiehlt die Kassen-Finanzierung nur für jene Patienten, die nachweislich an Corona erkrankt waren. Geimpfte und die schon lange vor der Pandemie Erkrankten müssen weiter kämpfen. &bdquo;Ein Skandal“, findet die Bielefelderin Britta K., &bdquo;immerhin liefern wir Betroffenen seit Jahren fast beiläufig das Datenmaterial, das belegt, dass diese Medikamente helfen.“

An sämtliche Bundesgesundheitsminister hat die Familie seit der Erkrankung ihrer Söhne geschrieben, sich mit Experten und Selbsthilfegruppen ausgetauscht. Doch ein kassenfinanzierter Off-Label-Use ist in weiter Ferne.

&bdquo;Das ist zuviel Geld, um es privat zu zahlen“ Mittlerweile sind Marvin und Levin 22 und 21 Jahre alt. Sie verlassen ihre Zimmer nur selten, an manchen Tagen nur im Rollstuhl. Selbst der Besuch der nahe gelegenen Arztpraxis oder die Teilnahme an einer wichtigen Klausur in der Schule wollen gut überlegt sein. Denn die Krankheit geht bei der geringsten Überlastung mit schweren &bdquo;Crashs“ einher, die das Befinden der Betroffenen über Tage oder gar Wochen verschlechtern können. &bdquo;Sie haben viele Phasen und Erlebnisse des Jugendalters verpasst, haben noch nie eine Party besucht“, berichtet K. und muss schlucken.

Selbst Besuch von Freunden ist zu anstrengend. Ihre Schulabschlüsse absolvierten die einst hervorragenden Schüler nach langen Kämpfen um Sonderregelungen via Homeschooling. Im Mai 2022 hat die Bundesregierung zwar weitere acht Millionen Euro für die Therapieforschung von Long Covid und ME/CFS bewilligt. &bdquo;Aber das reicht bei weitem nicht, um wirksame Medikamente zu finden und zuzulassen“, schildert die Bielefelderin. Das meiste Geld werde aktuell in die Versorgungsforschung, nicht in die so wichtige Grundlagenforschung gesteckt.

Betroffene wie die Familie K. fühlen sich von der Politik im Stich gelassen: &bdquo;Wir verschwinden einfach von der Bildfläche der öffentlichen Wahrnehmung“, sagt die Mutter, und es klingt bitter. Rund 600 Euro kosten die Medikamente für alle drei im Haushalt von K. pro Monat, sie helfen ihnen das Leben ein wenig zu erleichtern: &bdquo;Aber es ist viel Geld, um es auf Dauer privat zu zahlen. Viele schaffen das nicht“, macht sich Britta K. für die vielen anderen Betroffenen stark.

Diese Aussagen des BMG frustrieren Betroffene Diese Zeitung wollte vom zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wissen, warum es die Kassenzulassung für einen Off-Label-Use, also eine Nutzung im Rahmen von Studien, nur für Post-Covid-Betroffene empfiehlt. Und bekam zur Antwort: &bdquo;Das BMG wird im Rahmen eines mehrjährigen Förderschwerpunkts die versorgungsnahe Forschung zu Long Covid voranbringen.

Insgesamt stehen dem BMG für diesen Förderschwerpunkt 81 Mio. Euro zur Verfügung. (. . .)“ Um den Zugang zu Arzneimitteln im &bdquo;Off-Label Use“ für Long-Covid-Patienten zu verbessern, sei eine Expertengruppe Long Covid Off-Label-Use beim BfArM eingerichtet worden, die eine Bewertung der Anwendung von Medikamenten außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete bei Long-Covid-Patienten vornehmen solle.

Das BfArM ergänzt, dass sich unter den Mitgliedern der Expertengruppe auch &bdquo;führende ME/CFS-Forschende“ befänden. Deshalb sei es &bdquo;nicht ausgeschlossen, dass aus den Erkenntnissen der Expertengruppe auch Schlüsse für weitere Patientengruppen mit ME/CFS gezogen werden könnten“.

Aussagen, die die engagierte Bielefelderin Britta K. frustrieren. &bdquo;Die Äußerungen zur Off-Label-Use-Liste sind nicht gerade aussagekräftig“, sagt sie. Sie eröffneten kaum eine Perspektive. Den Kranken laufe aber die Zeit weg. K. weiß: &bdquo;ME/CFS-Forscher waren von Anfang an in der Expertengruppe und würden nie auf die Idee kommen, ME/CFS auszuklammern. Sie wären froh, wenn sie uns endlich helfen könnten.“

Die Initiative #LiegendDemo und der Verein Mirame Arts veranstalten in Bielefeld am 11. Mai, 13 bis 16 Uhr auf dem Jahnplatz eine Demonstration für Menschen mit ME/CFS. Diese Demos finden deutschlandweit statt.

Was ist ME/CFS? Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen, in Deutschland rund 500.000. Typisch ist eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS kritisiert den massiven Forschungsrückstand. Infos: www.mecfs.de .

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