Ende der ärztlichen Schweigepflicht? Bielefelder „Big Brother Award“ für Karl Lauterbach

Bielefeld. Der Arbeitgeber erfährt von der Krebsdiagnose vor der eigenen Familie: Das werde durch die elektronische Patientenakte und eine neue Gesetzesgrundlage in Zukunft machbar sein, warnt die Jury vom Verein Digitalcourage. Einmal im Jahr vergeben die Datenschützer in Bielefeld ihre &bdquo;Big Brother Awards“ an Unternehmen, Personen, Institutionen.

Einer der Negativpreise 2024 geht an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Denn ab Januar 2025 soll die Digitalisierung sensibler Patientendaten in Deutschland flächendeckend zum neuen Standard werden – trotz erheblicher Datenschutzmängel. Die ärztliche Schweigepflicht sei nicht länger gesichert.

Die Überwachungs-Oscars sind am Freitag, 11. Oktober, zum 24. Mal verliehen worden. Bereits zum dritten Mal von den Datenschützern nominiert ist dann auch die Deutsche Bahn, die Fahrgäste zunehmend zum digitalen und personalisierten Fahrkartenkauf via App zwinge, unter anderem durch die Abschaffung einer physischen Bahncard.

&bdquo;Big Brothers Awards“ für Polizei Sachsen, &bdquo;Temu“ und &bdquo;Shein“ Ein weiterer &bdquo;Big Brother Award“ geht an die Polizei Sachsen für ihre &bdquo;Pionierarbeit“ bei der Einführung des umstrittenen Videoüberwachungssystems PerIS, das laut Jury die willkürliche biometrische Gesichtserkennung von unbeteiligten Autofahrern in Echtzeit ermögliche. Ohne dass es eine Rechtsgrundlage gebe.

Die Experten warnen zudem in der Kategorie &bdquo;Verbraucher“ vor den Handelsplattformen &bdquo;Temu“ und &bdquo;Shein“, die großen chinesischen Konzernen gehörten und besonders extreme und skrupellose Datenkraken seien. Nutzer würden zudem unwissentlich zu Importeuren von Plagiaten und könnten sich strafbar machen.

Ungesicherter Zugriff auf hochsensible Patientendaten Am 15. Januar wird die elektronische Patientenakte (ePa) für alle gesetzlich Versicherten in Deutschland eingeführt. Auch für Privatversicherte soll sie in Zukunft kommen. Für Patientinnen und Patienten wird dann automatisch ein digitaler Ordner angelegt, in dem Diagnosen, Untersuchungsergebnisse, Arztbriefe und Laborbefunde usw. gespeichert werden. Es sei denn, sie widersprechen dem ausdrücklich.

Aus Sicht der Datenschützer erscheint das ratsam. Denn die digitale Akte ist zentraler Bestandteil eines neuen Systems, bei dem die Experten erhebliche Datenschutzmängel sehen. Das neue Gesundheitsdatennutzungsgesetz erlaube zukünftig die Nutzung von ärztlich erstellten Daten für sogenannte sekundäre Zwecke, sagt Thilo Weichert vom Vorstand der Deutschen Vereinigung für Datenschutz und ehemaliger Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein.

In Zukunft soll es in der EU einen gemeinsamen &bdquo;Europäischen Gesundheitsdatenraum“ geben. Das Jury-Mitglied erklärt, durch die neuen gesetzlichen Regelungen würden Patientendaten dann pseudonymisiert grundsätzlich jedermann zur Verfügung gestellt, der den Zugriff beantragt. Vorteile habe das sicher unter anderem für die medizinische Forschung. Doch das Genehmigungsverfahren für den Zugriff sei &bdquo;in keiner Weise transparent“.

Ärztliche Schweigepflicht in Gefahr &bdquo;Die Patientenanonymität wird nicht gewährleistet, denn die Bereitstellung hochsensibler, persönliche Daten ermöglichten eine Re-Identifizierung des einzelnen Patienten ohne große Probleme“, erklärt Weichert und nennt Beispiele. Besonders anfällig seien genetische Informationen sowie psychiatrische Diagnosen. Je seltener eine Diagnose, eine Krankheit sei, desto einfacher die Re-Identifizierung.

Zu Beginn würden in der elektronischen Patientenakte zwar vor allem PDF-Dateien gespeichert werden, die technisch schlechter auslesbar seien. Doch das werde sich schon bald ändern, so die Einschätzung der Datenschützer. Pharmaindustrie, Polizei und andere Dritten sowie KI-Systeme erhielten dann Zugriff auf persönlichste Daten. Die ärztliche Schweigepflicht sei mit dem neuen Gesundheitsdatennutzungsgesetz nicht länger garantiert.

Es gebe darin auch kein Beschlagnahmungsverbot für strafverfolgende Behörden, so ein weiterer Kritikpunkt der Big-Brother-Jury. Gleichzeitig hätten Betroffene kaum Möglichkeiten und Rechte, um Kenntnis über die eigenen anonymisierten Daten und einen eventuellen Missbrauch zu erlangen. &bdquo;Die gesetzlichen Regelungen sind in ihrer jetzigen Form rechts- und verfassungswidrig und müssen nachgebessert werden, daher der Big Brother Award für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach“, so das Fazit von Jurist Weichert. Eine erste Klage liege beim Sozialgericht in Berlin vor und werde von der Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützt. Die Klägerin gehöre zum Chaos Computer Club.

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