Kreis Höxter. Der Schutz von Tieren, Natur und Landschaftsbild stand für den wissenschaftlichen Leiter der Landschaftsstation im Kreis Höxter, Frank Grawe, bisher immer im Mittelpunkt. „Jahrzehnte habe ich dafür gekämpft“, sagt er. Doch jetzt gehe es vor allem darum, die Menschen zu schützen. „Denn es ist der absolute Wahnsinn, was in den nächsten Jahren auf uns im Kreis Höxter zukommt“, warnt Grawe. Er ist mit seinen Kassandrarufen nicht allein – selbst Landrat Michael Stickeln warnt inzwischen davor, dass sich der Kreis massiv verändern werde. Die Zahlen des Windkraftausbaus im Kreis Höxter sprengen alle bisher bekannten Dimensionen, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Und sie ändern sich täglich. Nach Angaben der Kreisverwaltung Höxter als Genehmigungsbehörde für Windkraftanlagen sind derzeit 177 Windräder im Kreis Höxter in Betrieb (Stand Anfang November). Weitere 131 Anlagen sind bereits genehmigt oder schon im Bau. Das ist aber noch längst nicht alles: Denn der Behörde liegen momentan 278 weitere Bauanträge für Windräder vor. Experte vermisst Aufschrei der Bevölkerung Ausmaße, die man sich kaum vorstellen kann, meint Grawe. „Es verwundert zutiefst, dass bislang keinen lauten Aufschrei in der Bevölkerung gibt“, sagt der Biologe. Vertreter der Naturschutzverbände, aber auch aus Landwirtschaft und Jägerschaft, die sich vergangene Woche zu einem Austausch in Bildungshaus Modexen trafen, gehen davon aus, dass das Gros der Bürgerinnen und Bürger das, „was da gerade über den Kreis hereinbricht, in seiner Tragweite schlicht und ergreifend noch nicht realisiert hat“. Grawe rechnet vor, dass es im gesamten Kreis Höxter dann etwa so aussehen wird, wie aktuell auf der Paderborner Hochfläche zwischen Buke und Schwaney entlang der Bundesstraße 64. Nur dass die Windräder im Kreis Höxter wesentlich höher sein werden. „Wären diese Anlagen gleichmäßig über den Kreis verteilt, entspräche das einer Anlage auf gut zwei Quadratmetern beziehungsweise, wenn man sich ein regelmäßiges Raster vorstellt, alle 1.465 Meter eine im Mittel 255 Meter hohe Anlage“, rechnet Grawe vor. Behörden erwarten 250 weitere Anträge im Kreis Höxter Damit allerdings nicht genug. Denn die Behörden gehen davon aus, dass selbst die aktuell anvisierten rund 590 Anlagen noch längst nicht das Ende der Fahnenstange sind. Sie rechnen mit etwa 200 bis 250 weiteren Anlagen. Die Folgen, so warnen Umweltexperten, werden nicht nur für die Tiere, sondern vor allem für die Menschen gravierend sein. „Unser land- und forstwirtschaftlich geprägtes Kulturland verliert seine Identität und wird von den technischen Bauwerken industriell überprägt. Von zahlreichen geplanten oder bereits beantragten Freiflächen-Photovoltaikanlagen, Stromleitungen oder Umspannwerken wird dieser Trend noch verstärkt“, warnt Grawe. Ausdrücklich sei er kein Gegner von Windkraftanlagen. Im Gegenteil habe die Landschaftsstation den Prozess in den vergangenen Jahren wissenschaftlich begleitet. Jetzt aber gehe jedes Augenmaß verloren. 98 neue Windräder in zehn Monaten genehmigt Die Entwicklung beim Windkraftausbau war jüngst auch Thema im Hauptausschuss des Kreises. Landrat Michael Stickeln erklärte, das Thema bewege die Menschen zu Recht. Zudem gebe es große Sorge um Wildwuchs. „Unsere Kulturlandschaft wird sich massiv verändern“, sagte er und nannte dazu weitere Zahlen dazu: Zwischen Januar und Oktober sind vom Kreis Höxter 98 Windenergieanlagen genehmigt worden. „Das sind sieben Prozent der Genehmigungen in ganz Deutschland“, machte er die Dimensionen deutlich. Mit einer Nennleistung von 630 Megawatt – so viel wie auf 33 Prozent des Bundesgebiets. Aber man müsse mit starker Stimme gemeinsam deutlich machen: „Ohne den ländlichen Raum oder den Kreis Höxter findet keine Energiewende in NRW statt. Wir sind der Energieraum für den Ballungsraum.“ Deshalb müsse man auf den kommunalen Finanzausgleich für den ländlichen Raum beim Land in Düsseldorf laut und selbstbewusst weiter deutlich pochen und dies dort vortragen: „Das muss weiterhin unsere Forderung sein.“ Eine Reaktion auf Stickelns mehrfach in die Landeshauptstadt getragene Position ist öffentlich nicht bekannt. Lokalpolitiker schielen vor allem aufs Geld Das Ausmaß der Entwicklung nahm der Ausschuss dann aber kaum in den Blick. Was der Kreis – speziell seine Bürgerinnen und Bürger – von den vielen Windrädern habe, das fragte Marcel Franzmann (SPD). Denn es gehe um Akzeptanz bei einem Thema, das die Bevölkerung umtreibe und viel Unmut aufkommen lasse. Parteikollege und Fraktionschef Frank Oppermann ergänzte, dass man die Errichtung der Windenergieanlagen grundsätzlich nicht verhindern könne, weil viele schon beantragt oder genehmigt sind. Man sei aber froh, ein Unternehmen mit Ansprechpartnern vor Ort zu haben, dazu die Arbeitsplätze, die Entscheider und die Partizipationsmöglichkeiten. Umweltschützer sehen Lokalpolitik in der Verantwortung Gedanken, die für Umweltschützer Grawe viel zu kurz greifen. Es geht ihnen vielmehr darum, dem Ganzen Grenzen zu setzen. In der Pflicht seien vor allem die Lokalpolitiker – sprich die Stadträte: „Die Städte im Kreis Höxter können beantragten Anlagen außerhalb der Windvorrangflächen nämlich das Einvernehmen und damit die Genehmigung versagen – eine wirksame Möglichkeit, die dem Kreis von außen übergestülpte Flut der Anlagen zu verringern und unsere Landschaft nicht gänzlich zu entwerten.“ Hieran müssten sich „die politischen Würdenträger“ in den Stadträten und Bauausschüssen in den nächsten Monaten und Jahren messen lassen. Die Kreisverwaltung als Genehmigungsbehörde habe hingegen durch „jüngst geschickt geänderte Gesetze“ oder neue Gesetzgebungen kaum mehr Möglichkeiten, beantragten Anlagen selbst bei größten Konflikten unterschiedlicher Art die Genehmigung zu versagen. Warum der Schwarzstorch plötzlich kein Problem mehr ist Grawe nennt als praktisches Beispiel den Schwarzstorch, der im Kreis Höxter brüte. Er ist als streng geschützt und in der Roten Liste für NRW als „gefährdet“ eingestuft. Weil er rund um seine Nester aber zahlreiche Windräder verhindert hätte, wurde er kurzerhand aus der „Liste der kollisionsgefährdenden Vögel“ gestrichen. Sprich: Der Gesetzgeber bescheinigt dem Schwarzstorch, er könne den unzähligen Windrädern immer ausweichen. Die Realität sei natürlich eine andere, kommentiert Grawe. Die beschriebene Entwicklung konterkariere all die Bemühungen der vergangenen Jahre, das Kulturland Kreis Höxter in Wert zu setzen, sagt der Biologe. Auch er habe viele Jahre dafür gekämpft. Nun drohe all das verloren zu gehen – für die Bürgerinnen und Bürger als auch für die Gäste aus nah und fern. Denn touristisch, da ist sich Grawe sicher, sei der Kreis Höxter mit so vielen Windrädern in ein paar Jahren tot. Und die vielen Millionen Euro zur Förderung der Natur und Landschaft wie die „Erlesene Natur“ oder „Vielfalt auf Kalk“ riesige Fehlinvestitionen.