Streit um Lohnfortzahlung: „Karenztage senken Krankenstände wirksam“

Berlin/Bielefeld. Der Krankenstand ist in Deutschland auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Mit durchschnittlich 15 Krankmeldungen pro Jahr pro Arbeitnehmer weist Deutschland eine der höchsten Fehlzeiten weltweit auf, verbunden mit hohen Kosten für Krankenkassen und Arbeitgeber. Allianz-Chef Oliver Bäte sieht dadurch den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet und fordert, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen. Doch lässt sich mit der Wiedereinführung des Karenztages der Krankenstand senken?

Sind die Fehlzeiten in Deutschland höher als in anderen Ländern? Für 2023 meldet das Statistische Bundesamt im Durchschnitt 15,1 Krankmeldungen pro Arbeitnehmer. Eine Untersuchung des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung im Auftrag der DAK als einer der größten Krankenkassen in Deutschland zeigt einen sprunghaften Anstieg der Fehltage um fast 40 Prozent von 2021 auf 2022. Für 2024 rechnen die Statistiker mit weiter steigenden Zahlen. So registrierte die größte Krankenkasse, die TK, bis November durchschnittlich 17,7 Fehltage pro Arbeitnehmer.

Im Vergleich zu anderen Nationen weist Deutschland nach Angaben des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung vermutlich eine der höchsten Fehlzeiten weltweit auf. Der Vergleich der Krankentage ist jedoch aufgrund unterschiedlicher Vorgaben schwierig, da es in einigen Ländern beispielsweise die Möglichkeit einer teilweisen Krankschreibung gibt.

Warum ist der Krankenstand in Deutschland so hoch? Mehrere Untersuchungen zeigen, dass das neue elektronische Meldeverfahren mitverantwortlich für die Rekordwerte ist. Es führt seit 2023 dazu, dass die von Ärzten ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen automatisch an die Krankenkassen weitergeleitet werden. &bdquo;Es gibt starke Anhaltspunkte, dass der Großteil des Anstiegs auf eine bessere statistische Erfassung der Fehlzeiten zurückzuführen ist“, erklärt ein Sprecher des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung.

Auch eine Untersuchung des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung im Auftrag der DAK kommt zu diesem Schluss. Nach Angaben von DAK-Vorstandschef Andreas Storm beträgt der Meldeeffekt je nach Diagnose etwa 60 Prozent. Ein Drittel der zusätzlichen Fehltage ergebe sich seit 2022 zudem durch verstärkte Infektionswellen. Vermehrte Krankmeldungen durch die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibungen, dieses Ergebnis liefere die Untersuchung hingegen nicht, erklärt Storm.

Hat Deutschland ein Problem mit Blaumachern? Hinweise auf verstärktes Blaumachen liefern die Untersuchungen des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung und des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung nicht. Auch die Bundesärztekammer sieht dafür keine Hinweise, beobachtet aber ein verändertes Patientenverhalten. Seit der Corona-Pandemie lassen sich nach Angaben von Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt mehr Menschen bei Infektionskrankheiten krankschreiben. &bdquo;Der Aspekt des Nichtansteckens hat eine andere Qualität gewonnen in den zwei, drei Jahren des Lockdowns und der Infektionsvermeidung“, erklärt der Bielefelder Allgemeinmediziner.

Das bestätigt auch der Hausärzteverband Westfalen-Lippe. &bdquo;Die Bereitschaft zur Krankschreibung steigt, auch wegen Banalitäten. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die wir seit Jahren beobachten“, sagt der dritte Vorsitzende Jens Grothues. Der Hausarzt erlebt zunehmend Patienten, die auch bei leichten Erkältungen oder Magen-Darm-Beschwerden lange Krankschreibungen einfordern. &bdquo;Das betrifft neben Menschen kurz vor der Rente vor allem die jüngeren Generationen, weil die Verbundenheit zu ihren Arbeitgebern nicht mehr so groß ist wie früher.“

Zudem habe sich der Arbeitsmarkt in vielen Branchen in einen Arbeitnehmermarkt verwandelt. &bdquo;Das wissen die Beschäftigten und haben weniger Druck.“ Da die deutsche Wirtschaft jedoch in eine Rezession rutsche, werde der Krankenstand wieder sinken, sagt Grothues. &bdquo;In immer mehr Branchen verlieren Menschen ihren Arbeitsplatz und das sorgt für Verunsicherung und Angst.“

Nach Angaben des Bielefelder Gesundheitsökonomen Wolfgang Greiner ist empirisch belegt, dass die Fehlzeiten immer dann steigen, wenn Arbeitsplätze sicher sind. &bdquo;Ändert sich der Arbeitsmarkt, sinkt auch der Krankenstand“, erklärt Greiner. &bdquo;Es gibt aber noch viele weitere Gründe und dazu zählen auch die steigende Zahl älterer Arbeitnehmer mit einem höheren Risiko für Erkrankungen sowie der veränderte Umgang mit psychischen Erkrankungen, weil sie besser diagnostiziert und weniger stigmatisiert werden.“

Eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland sieht Greiner durch den hohen Krankenstand nicht, jedoch Nachteile. &bdquo;Deutschland ist ein Hochlohnland und die vielen Fehlzeiten verursachen hohe Kosten. Das schadet der Attraktivität des Standorts.“

Kann der hohe Krankenstand durch die Wiedereinführung eines Karenztages gesenkt werden? Die Streichung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag ist nach Angaben Greiners ein wirksames Mittel zur Senkung der Fehlzeiten. &bdquo;Das zeigen Studien eindeutig. In vielen Ländern erhalten Arbeitnehmer am ersten Tag oder in den ersten drei Tagen im Krankheitsfall keine Lohnfortzahlung. Das gilt in einigen Fällen auch dann, wenn ein ärztliches Attest vorliegt.“ Solche Maßnahmen blieben jedoch nie ohne Nebenwirkungen, sagt Greiner. &bdquo;Besonders betroffen sind davon Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor. Zudem wird die Zahl der Arbeitnehmer steigen, die krank arbeiten.“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund befürchtet, dass so eine Entwicklung nicht nur der Gesundheit der Arbeitnehmer schadet, sondern doppelt so hohe Folgekosten wie für Kosten krankheitsbedingter Fehlzeiten verursachen würde. Greiner sieht dafür jedoch keinen empirischen Beleg. Zudem weist der Gesundheitsökonom darauf hin, dass selbst bei der Wiedereinführung eines Karenztages Arbeitgeber nicht zur Umsetzung verpflichtet sind. &bdquo;Zur Gewinnung von Arbeitskräften können sie auch mit einer sofortigen Lohnfortzahlung werben. Unterschiede gibt es ja bereits jetzt. Es gibt Unternehmen, die bei einer Krankmeldung bereits am ersten Tag ein Attest verlangen. Viele andere Arbeitnehmer haben dafür drei Tage Zeit.“

Bonuszahlungen für Arbeitnehmer, die sich nicht krankmelden, sind nach Angaben Greiners keine wirkungsvollen Mechanismen, um Fehlzeiten zu reduzieren. &bdquo;Studien zeigen, dass das genau in die andere Richtung geht. Mitarbeiter melden sich dann eher krank, weil sie das Gefühl haben, dass sie sich das durch den Verzicht auf den Bonus verdient haben.“

Grothues hält die Wiedereinführung eines Karenztages für weniger wirkungsvoll, zumindest dann, wenn die Lohnfortzahlung bei einem ärztlichen Attest fortgesetzt wird. &bdquo;Die allermeisten Arbeitnehmer kommen im Krankheitsfall bereits am ersten Tag in die Praxis und nicht erst am vierten Tag, weil sie dann ein Attest benötigen.“ Auch Grothues rechnet damit, dass Karenztage dazu führen werden, dass mehr Arbeitnehmer krank arbeiten. &bdquo;Das muss aber nicht grundsätzlich gefährlich sein. Wer mit Kopfschmerzen oder Schnupfen arbeitet, gefährdet sich nicht automatisch selbst.“

Können Arbeitgeber dazu beitragen, den Krankenstand zu senken? OECD-Gesundheitsökonom Christopher Prinz verweist in der Debatte um hohe Krankenstände in Europa auf die Niederlande, die in den 1990er-Jahren ihr System angepasst und die Fehlzeiten deutlich verringert haben. Weil der Staat die finanzielle Verantwortung für kranke Arbeitnehmer auf die Unternehmen übertragen habe, würden Unternehmen Gesundheit und Prävention in den Fokus rücken. Demnach müssen Arbeitgeber die Lohnfortzahlung für kranke Arbeitnehmer für ein Jahr und teilweise sogar länger übernehmen. Zudem gibt es strenge Vorgaben für die Unternehmen bei der Wiedereingliederung ihrer Arbeitnehmer nach längeren Ausfällen.

Auch Grothues verweist auf die Verantwortung der Arbeitgeber für geringere Krankenstände. &bdquo;Arbeitgeber können mit guten Arbeitsbedingungen dafür sorgen, dass die Quote der Fehlzeiten sinkt. Wer sich kümmert, hat weniger kranke Mitarbeiter, deshalb ist der Ansatz aus den Niederlanden überzeugend.“ Greiner verweist darauf, dass sich auch in Deutschland bereits viele Unternehmen im betrieblichen Gesundheitsmanagement engagieren und so dazu beitragen, dass Mitarbeiter gesünder leben. &bdquo;Die Krankenkassen sind als Unterstützer sehr engagiert, doch Studien zeigen, dass sich die meisten kleinen und viele mittelgroße Betriebe nicht engagieren, sondern nur die großen Unternehmen.“

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