86.000 arbeitslose Fachkräfte in NRW – so sollen sie einen Job finden

Herr Schüßler, die Bundesregierung will die Wirtschaft ankurbeln. Stellen Sie bereits einen Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt des einwohnerstärksten Bundeslandes fest?

Roland Schüßler: So weit ist es noch nicht, wir spüren weiterhin die konjunkturell schwierige Lage in der Wirtschaft. NRW liegt bei der Arbeitslosenquote zwar aktuell deutschlandweit im Mittelfeld – und schneidet im Vorjahresvergleich mit 5,7 Prozent besser ab als Bayern und Baden-Württemberg mit 10 und 13,5 Prozent. Zudem sind wir mit 7,5 Prozent Arbeitslosigkeit in 2024 noch weit von der Massenarbeitslosigkeit vor 20 Jahren entfernt. Das hilft aber nicht, es gibt viele Herausforderungen.

Welche?

Die Neugründungen sind seit Jahren rückläufig. Die Anträge auf Insolvenzgeld haben sich seit 2022 mehr als verdoppelt – auf knapp 50.000. Und die Kurzarbeit wächst derzeit noch an – in OWL beträgt sie derzeit 1,9 Prozent und liegt über dem Landesschnitt. Gleichzeitig stellen Unternehmen aber auch weiterhin Mitarbeitende ein. Man könnte den Arbeitsmarkt deshalb als paradox beschreiben: Wir haben über 700.000 arbeitslose und zugleich viele Unternehmen, die händeringend Menschen suchen.

Ein Blick auf die Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Land zeigt: Die Kurve geht seit Jahren nach oben, auch jetzt wieder um rund 42.000 Menschen auf 7,43 Millionen. Das ist doch ein Erfolg, oder?

Ja, doch ein genauer Blick sollte uns nachdenklich stimmen. Das Wachstum geht an kleineren Betrieben vorbei. Konkret: In Betrieben mit maximal 100 Beschäftigten hatten wir bereits in den vergangenen zwei, drei Jahren keinen Stellenaufwuchs mehr. Und einen Rückgang verzeichnen wir im verarbeitenden Gewerbe, das betrifft zum Beispiel die Bereiche Metallverarbeitung, Papier, Kunststoff, Fahrzeugbau, Holz und Möbel. Ein Grund könnte sein, dass es kleinen Unternehmen schwerer fällt, eine Transformation im Betrieb anzustoßen und Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Dem gegenüber zeigt sich: Je mehr Mitarbeiter die Unternehmer haben, desto stärker wächst ihre Mitarbeiterzahl. Bei den Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten ist sie seit 2022 um 75.000 gewachsen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie für Unternehmen, Fachkräfte zu gewinnen?

Es gibt viele Potenziale zu heben, die nichts kosten und für die es auch keinen Koalitionsvertrag oder Gesetzesänderungen braucht. Wir können jetzt zusammen handeln. Wir haben in NRW derzeit rund 86.000 arbeitslose Fachkräfte, die stünden sofort zur Verfügung. Es gibt 1.200 Fachkräfte mit einem Wohnsitz im Ausland, die eine Tätigkeit in Deutschland suchen. Knapp 24.000 Menschen werden demnächst ihre Weiterbildungen beenden – und auf den Markt kommen. Die Beschäftigungsquote von Frauen beträgt nur 56 Prozent und die älterer Menschen rund 42 Prozent. Da können wir besser werden, ebenso bei der Integration Schwerbehinderter. Deshalb wollen wir als Arbeitsagentur gezielt, zum Beispiel gezielt zusammen mit den Handwerksinnungen noch passgenauer Arbeitsstellen und Bewerber vermitteln. Wir haben daher Potenziallandkarten entwickelt, mit denen wir für jede Region transparent machen, welche Fachkräfte es gibt.

Und der Nachwuchs?

Aktuell bildet nur ein Fünftel der NRW-Unternehmen aus – auch da gibt es Luft nach oben. Zudem könnten wir früher ansetzen: Wir haben gerade ein vom Arbeitgeberverband Metall möglich gemachtes Modellprojekt der Berufsorientierung ab Klasse 5 und haben dort gute Erfahrungen gemacht. Viele der Kinder entdecken ihre Talente und werden sogar schulisch besser.

Bräuchte es das auch für Geflüchtete und Asylbewerber, die immer wichtiger für den Arbeitsmarkt werden?

Ja. Wir sind als Arbeitsagentur aktuell in einem Modellversuch mit Berufsberatern an zwei Standorten in Zentralen Unterbringungseinrichtungen für Geflüchtete. Wir gehen also zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu den Geflüchteten, um mit ihnen in Einzelgesprächen auf Englisch über Kompetenzen, Anträge und Möglichkeiten auf unserem Arbeitsmarkt zu sprechen. Wir haben damit so gute Erfahrungen gemacht, dass wir nun mit der Landesregierung darüber sprechen, dieses Modell in ganz NRW auszurollen. Das könnte Menschen um Monate früher in Arbeit bringen.

Industrie-Gigant Thyssenkrupp mit Sitz in Essen und Duisburg plant, Tausende Stellen auszugliedern. 5.000 könnten direkt wegfallen. Was würde das für den Arbeitsmarkt in NRW bedeuten?

Das verarbeitende Gewerbe ist der industrielle Kern von NRW. Es muss uns gemeinsam gelingen so viele Arbeitsplätze wie möglich langfristig zu erhalten. Es handelt sich um qualifizierte Tätigkeiten, die gut entlohnt werden. Neben der von Thyssenkrupp genannten Größenordnung werden in der Wertschöpfungskette auch viele weitere Betriebe aus der Zulieferbranche betroffen sein. Für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Nordrhein-Westfalen insgesamt eine schwierige Situation. Bei den Mitarbeitenden, bei denen ein Verbleib im Unternehmen nicht in Betracht kommt, handelt es sich um Arbeitnehmende mit vielen Kompetenzen. Für diese Menschen gibt es viele Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt in NRW – sodass wir sie bestenfalls in ein neues Beschäftigungsverhältnis vermitteln können, und sie gar nicht erst arbeitslos werden.

Was hieße das konkret?

Wenn man die Arbeitsagentur rechtzeitig einbindet, bevor es zur finalen Entscheidung zum Beispiel über Transfergesellschaften kommt, dann bieten wir an, den Unternehmen quasi eine kleine Arbeitsagentur aufs Betriebsgelände zu bauen und mit Beratern dorthin zu kommen. Vor Ort können wir dann Kompetenzen feststellen, zum Arbeitsmarkt beraten und Angebote machen, um den Menschen potenzielle Chancen aufzuzeigen. Und insbesondere den Prozess von Arbeit in Arbeit zu organisieren. Für dieses sogenannte Drehscheiben-Modell braucht es eine gewisse Größenordnung in der Mitarbeiterschaft. Thyssenkrupp könnte da eine Blaupause für viele weitere sein. Wir machen das aber nur, wenn Betriebsrat und Unternehmensführung das wünschen. Das ist also ein freiwilliges Angebot, in dem ich aber eine echte Chance sehe.

86.000 arbeitslose Fachkräfte in NRW – so sollen sie einen Job finden

Angebot zur Kommunalwahl

Hohe Quoten: So viele Ukrainer hat OWL in den Arbeitsmarkt integriert

Steigende Arbeitslosenquote: Schlechte Wirtschaftslage trifft Arbeitsmarkt

Arbeitslosigkeit steigt - Quote bei 7,9 Prozent

Konjunkturschwäche auch auf Ausbildungsmarkt spürbar

Arbeitslosenquote sinkt auf 7,8 Prozent

Anträge auf Insolvenzgeld in OWL haben sich seit 2022 fast verdoppelt