Minden. Morgens, 8.10 Uhr. Während es in anderen Klassen fünf Minuten vor Stundenbeginn lebhafter zugeht, ist in Klasse H auf dem blauen Flur Ruhe angesagt. Geduldig sitzen die Kinder im Kreis, begrüßen ihre Lehrerinnen: "Guten Morgen, Frau Albrecht, guten Morgen, Frau Soller!", schallt es im Chor. Ein ganz gewöhnlicher Schultag an der Michael-Ende-Schule in Minden beginnt. Die Entwicklung der Klasse wird diese Zeitung auch in Zukunft weiter verfolgen.
Obwohl die Kinder erst seit ein paar Wochen zusammen lernen, ist die Klasse H schon eine eingeschworene Gemeinschaft. Das liegt vor allem an Pietje, Manuel, Hanna, Jakob und Celina. Die fünf Schulstarter sind nichts Geringeres als Vorreiter. Sie sind die ersten Kinder in der Region mit einer Hörbehinderung, die zusammen mit nichtbehinderten Gleichaltrigen an einer Regelschule unterrichtet werden – jahrgangsübergreifend und von zwei Lehrerinnen gemeinsam.
Das IN-Konzept
Sechs Partner arbeiten zusammen, um in der neuen sogenannten IN-Klasse (IN steht für Inklusion) der Michael-Ende-Schule das Modellkonzept eines jahrgangsübergreifenden Unterrichts weiterzuentwickeln.
Dem Kollegium der Mindener Grundschule stehen die sonderpädagogischen Fachleute der Bielefelder Westkampschule (Förderschule des LWL für Hören und Kommunikation) mit Fortbildung, Hospitation, Beratung und Einzelfallhilfe zur Seite. Die Schulaufsicht vom Kreis Minden-Lübbecke und der Bezirksregierung sichert die Personalausstattung. Die Stadt Minden und der LWL kümmern sich um die Raumakustik und die Hör-/Sprechanlagen.
Zunächst vier Jahre lang - bis zum Schuljahr 2014/2015 - gilt für das Modellprojekt die Kooperationsvereinbarung.
Darin steht auch, dass der gemeinsame Unterricht von hörbehinderten Kindern mit Gleichaltrigen ohne Handicap auch im Sekundarbereich ab Klasse fünf fortgesetzt werden soll.
Es ist viertel nach acht. Sonderpädagogin Anke Soller stellt Jakobs Hörgerät ein. "Verstehst du mich?", fragt sie ihn. Er nickt. Es kann losgehen. Deutsch ist angesagt. Klassenlehrerin Nicole Albrecht liest aus "Freunde" von Helme Heine vor und zeigt die Bilder von Franz von Hahn, Johnny Mauser und dem dicken Waldemar, die gemeinsam in den Morgen hineinradeln und die nichts voneinander trennen kann. Das Thema ist den Kindern bekannt. Warum? "Weil wir alle Freunde sind", weiß Richard. Er ruft es nicht in den Raum hinein, sondern spricht behutsam in eines der Mikrofone, die in der Mitte des Kreises stehen. Damit alle seine Mitschüler ihn gut verstehen.
Die im Raum integrierte Schallanlage ist mit den Hörgeräten der Kinder gekoppelt. Jeder weiß, dass er vor einem Redebeitrag das Mikrofon in die Hand nehmen muss. "Alle haben sich schnell daran gewöhnt", sagt Anke Soller. Sie und Nicole Albrecht haben Mikrofone an ihre Pullover geclipst. Die fünf Kinder mit den unterschiedlich ausgeprägten Hörbeeinträchtigungen seien gut integriert, sagen beide Lehrerinnen.
Wichtig sei gewesen, den Kindern gleich zu Schulanfang bestimmte Gesprächsregeln zu verinnerlichen. "Sie sollen sich beim Sprechen ansehen und den anderen nicht von hinten anreden", erklärt Anke Soller. Sie wurde für die neue Lernform von der Westkampschule in Bielefeld, der sogenannten Förderschule Hören und Kommunikation, nach Minden abgeordnet. Während der Arbeitsphasen müssen die Schüler so leise sein, dass die Klassenlautstärke auch für die hörgeschädigten Kinder erträglich ist, erklärt sie. "Sie reagieren sensibler auf Lärm und können die Worte ihrer Sitznachbarn bei leicht erhöhter Umgebungslautstärke nicht mehr verstehen."
Das Konzept geht auf: Die hörgeschädigten Kinder, die so an ihrem Wohnort zur Schule gehen können, sind nicht isoliert. Ihre Mitschüler betrachten die Hörgeräte und Mikrofone mittlerweile als etwas ganz Selbstverständliches.
Doch ganz von selbst läuft ein solches Vorreiterprojekt nicht. Zwei Jahre haben die Lehrerinnen sich auf diese Lernform vorbereitet. Sie besuchten eine Schule in Süddeutschland, in der Kollegen unter ähnlichen Bedingungen unterrichten. Dazu kam der Umbau des Klassenzimmers, Teppichboden wurde verlegt, die Akustikanlage eingebaut.
"Wir haben uns gut aufeinander eingestellt", meint Nicole Albrecht. Auch die Rückmeldungen der Eltern seien durchweg positiv. Die Unterrichtsorganisation ist auf Individualisierung und Arbeit in Kleingruppen ausgerichtet. Nicole Albrecht hat gerade Steckbriefe an die Schüler ausgeteilt, auf denen sie ihre besten Freunde beschreiben sollen. Die größte Herausforderung sei, allen gerecht zu werden, keinen zu vernachlässigen. Manche brauchen mehr Hilfe als andere. Vor allem das Patensystem habe sich bewährt. Jedes Kind hat ein anderes Kind als Paten. "Wenn Hilfe gebraucht wird, sollen normalerweise zuerst die Paten versuchen zu unterstützen, bevor wir eingreifen", erklärt Nicole Albrecht. H wie Helfen – in Klasse H wird das großgeschrieben.
Pietje will Bilder ihrer Freundinnen in der Klasse auf den Steckbrief malen. So viele, wie sie zeichnen möchte, passen gar nicht in das kleine Kästchen auf dem Arbeitsblatt. Was sie an ihren Freunden gern mag? "Wir verstehen uns eben alle gut", sagt sie und lacht. Manchmal auch ganz einfach ohne Worte.