Bielefeld. Kino ist, wenn man gemeinsam im Dunkeln sitzt und Einblicke in die Welt bekommt. Zur Eröffnung des Film- und Musikfestivals "Schall und Rausch", organisiert von der Murnau-Gesellschaft Bielefeld, bekam das Publikum Einblicke in den Zusammenstoß zweier Welten. "Das alte Gesetz" unter der Regie von Ewald André Dupont mit dem ersten deutschen Filmstar Henny Porten als Erzherzogin Elisabeth Theresia erwies sich als ein ausgesprochen moderner Stummfilm. Der beredte Streifen hatte berufene musikalische Kommentatoren gefunden: Giora Feidman als die globale (Klarinetten)Stimme weltanschaulicher Toleranz und seinen Begleiter Günter A. Buchwald (Violine und Klavier), der als einer der versiertesten Stummfilmmusiker gilt.
Ruben Pick, der Schnorrer (Robert Garrison), infiziert Baruch (Ernst Deutsch), den Sohn des Rabbis (AvromMorewsky), am jüdischen Purim-Fest mit Theaterleidenschaft. Baruch rückt aus, schließt sich einer fahrenden Komödiantentruppe an und macht schließlich – dank der Protektion der Erzherzogin – eine glänzende Karriere am Wiener Burgtheater. Am Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsfest, debütiert er mit "Hamlet".
Zum Passah-Fest, an dem sich die Juden an die Befreiung aus dem "Sklavenhaus Ägypten" erinnern, kehrt der gefeierte Mime auf Anregung des Schnorrers ins Schtetl zurück. Der Rabbi verweist ihn des Hauses: "Mein Sohn ist tot!" Der Schnorrer gibt dem Rabbi Shakespeare zu lesen und überredet ihn, eine Vorstellung des "Don Carlos" in Wien zu besuchen. Der Alte wird ergriffen vom Konflikt zwischen Don Carlos und dessen Vater: Große Versöhnung. Der Rabbi begreift: Das Herz steht über dem Gesetz.
Ein hochaktueller Film
Es ist ein Märchen – die Vision einer Welt, die von Toleranz und Empathie regiert wird, wie sie Lessing 140 Jahre früher in seinem "Nathan" entworfen hatte."Das alte Gesetz" ist also ein hochaktueller Film. Die Zumutungen des Fundamentalismus (in allen Religionen!) sind heute die größten Feinde des Friedens. Und das 20. Jahrhundert mit seinem Rückfall in die Barbarei hat Zweifel aufkommen lassen, ob die Menschheit sich je wird zivilisieren können.
Umso "zivilisierter" und Mut machend geriet Feidmans Filmmusik. Mit Klezmer-Klängen beschwor der begnadete Klarinettist lange vor Filmbeginn die Erinnerung an die "Schtetl" Galiziens herauf, eine musikalische Reverenz an eine Welt, die es nicht mehr gibt. Feidman und sein Begleiter Buchwald schufen die zwei Welten musikalisch nach. Radetzky-Marsch, Galopp und Walzer für die mondäne Hauptstadt des Kaiserreichers Österreich-Ungarn, tiefe Melancholie und rasende Leidenschaft für das Gemeinwesen der Juden, abgegrenzt und angefeindet, von Pogromen bedroht, einerseits behaglich, andererseits erstickend.
Eine herbe Niederlage erleidet die Erzherzogin. Der Erfolgsverwöhnten will es einfach nicht gelingen, den begriffsstutzigen Baruch zu ihrem Liebhaber zu machen. Zu allem Überfluss bekommt sie "von allerhöchster Stelle" den Hinweis, sich nicht mit Schauspielern einzulassen. Henny Porten, die bereits "die Geierwally" mit Dupont gedreht hatte, gestaltet jenseits aller expressionistischen Stummfilmmimik eine nuancenreiche Frau jenseits aller Hofetikette (auch ein altes Gesetz).
GioraFeidman und Günter A. Buchwald wurden stürmisch gefeiert. Und man fragte sich: War es ein Konzertabend der Beiden unter Zuhilfenahme filmischer Illustrationen oder war es ein Kinoabend mit zu Herzen gehender Live-Musik? Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.