Manchmal passiert etwas, das uns ausbremst, verletzt oder dafür sorgt, dass wir uns ungerecht behandelt fühlen - ohne dass wir Einfluss darauf haben.
Eine verpasste Beförderung, eine öffentliche Bloßstellung oder eine Entscheidung, die andere über unseren Kopf hinweg treffen: In solchen Momenten reagieren viele Menschen ähnlich. Sie ziehen sich innerlich zurück, fühlen sich machtlos und verharren gedanklich in der Opferrolle.
Diese Haltung ist menschlich, kann sich aber langfristig negativ auswirken. Wie man erkennt, ob man in der Opferrolle feststeckt – und wie der Weg zurück in die Selbstwirksamkeit gelingen kann.
Eine passive Haltung - mit Folgen
Zunächst sollte man sich dafür vor Augen führen, dass eine solche Reaktion aus psychologischer Sicht nachvollziehbar ist. «In dem Moment, in dem wir etwas Negatives erleben, das außerhalb unserer eigenen Kontrolle liegt, also von jemand anderem oder dem System oder den Umständen ausgelöst wurde, rutschen wir automatisch und natürlicherweise in die Opferrolle», sagt die Diplom-Psychologin Silke Brand.
Die Opferrolle ist ihr zufolge eine passive Rolle: Dem Opfer ist etwas Negatives widerfahren, das von außen verursacht wurde. Die mentale Haltung kann Folgen haben: Wer gedanklich, gefühlsmäßig und verhaltensmäßig in der Opferrolle stecken bleibt, habe «typische Gefühle wie Fassungslosigkeit, Enttäuschung, Ohnmacht, Rachewut oder Resignation», so Brand.
Aus der anfänglichen berechtigten Verletztheit können sich der Psychologin zufolge nach und nach Groll, Bitterkeit und womöglich auch Verbitterung entwickeln. Dies sei, ähnlich wie Burn-out, ein Risikozustand für psychosomatische Erkrankungen.
Zurück in die Eigenverantwortung
Auch Sebastian Mauritz, Resilienz-Trainer und Systemischer Coach, betont die Passivität als Merkmal einer typischen Opfermentalität. Passiv im Sinne von «Etwas macht etwas mit mir» und nicht «Ich bin handelnder Protagonist des Lebens», wie es Mauritz beschreibt.
Das System ist ungerecht, die Chefin unfair, der Freund unsensibel: Dass man zum Opfer von irgendetwas wird oder sich als Opfer bestimmter Umstände fühlt, gehört zum Alltag. Nicht jedoch, dass man Opfer bleibt. Diplom-Psychologin Brand rät zur Selbstermächtigung: «Wer Opfer geworden ist, muss nicht Opfer bleiben», sagt sie.
Die Unsicherheit überwinden
Eigenständig aus der Opfermentalität herauszukommen, kann durchaus herausfordernd sein. «Die Opferrolle gibt einem eine gewisse Form von Sicherheit», so Resilienz-Trainer Mauritz. Man müsse keine Verantwortung übernehmen und könne sich in der Rolle in gewisser Hinsicht aufgehoben fühlen und seinen Platz haben. «In dem Moment, wo man aus der Opferrolle herausgehen und sie überwinden möchte, wird es für einen kleinen Moment erst einmal unsicherer.»
Hier liegt aber der springende Punkt. Anstatt im Gefühl der Kränkung zu verharren, gilt es, aktiv zu werden. Wachstum gelinge nur, «wenn wir nach einem Opfererlebnis auch in die Handlung kommen», so Mauritz und plädiert dazu, in solchen Situationen Verantwortung zu übernehmen. Oft gelinge dies aus Eigeninitiative oder mit Unterstützung einer vertrauten Person.
Fünf Schritte aus der Opferrolle
Folgende Schritte sind wichtig, wenn wir uns aus einer tief sitzenden Kränkung befreien wollen:
1. «Betroffene müssen für sich anerkennen, dass sie Opfer geworden sind», sagt Silke Brand. Sie müssten sich um die ihnen zugefügte Wunde mitfühlend, fürsorglich und wertschätzend kümmern, damit sie heilen kann. Konkret heißt das: Das zugefügte Unrecht benennen, die Verletzung achtsam wahrnehmen und Selbst-Mitgefühl praktizieren.
2. Im nächsten Schritt geht es darum, das Erlebte hinter sich zulassen. «Betroffene müssen das Zepter in die Hand nehmen und Verantwortung für ihr Leben übernehmen», sagt Sebastian Mauritz. Hilfreich kann sein, sich in Selbstreflexion zu üben und dabei mögliche negative Gedankenmuster auszumachen. Wichtig ist auch, sich auf konkrete Lösungen zu konzentrieren.
3. Jetzt richtet man den Blick nach vorn. «Man beschäftigt sich mit dem persönlichen Lebenssinn und bedeutsamen Werten, die man als Kompass für zukünftiges selbstbestimmtes Leben nutzen kann», so Silke Brand. Dabei sollte man sich bewusst machen, dass man niemals auf ganzer Linie hilflos und ohnmächtig ist, sondern jederzeit Themen innerhalb des eigenen Einflussbereichs frei entscheiden und gestalten kann.
4. Man sollte sich auch bewusst machen, dass negative Ereignisse wie Schicksalsschläge oder Angriffe verbaler und körperlicher Art nichts mit einem persönlich zu tun haben. «Mitunter passieren sie einfach aufgrund bestimmter Umstände», sagt Sebastian Mauritz. Auch das könne dazu beitragen, sich nicht länger als Opfer zu fühlen.
5. «Wichtig ist auch, den Selbstwert zu kultivieren», so Mauritz. Dabei hilft es, wenn man für sich herausfindet, was einen zum Beispiel lächeln lässt. Oder was Momente sind, in denen man sagt: «Ich habe etwas Neues gelernt, ich habe etwas geschafft». Wer sein Selbstwertgefühl stärke, sei zumeist weniger anfällig dafür, in eine Opferrolle zu geraten.