Die Erklärung des bayerischen Ministerpräsidenten war mit Spannung erwartet worden. Doch wer glaubte, Markus Söder könne seinen Stellvertreter Hubert Aiwanger entlassen, hat sich Illusionen gemacht. Der Vorsitzende der Freien Wähler wird bis zur Landtagswahl am 8. Oktober und wohl darüber hinaus bleiben, was er ist. Diese Entscheidung ist falsch und fatal.
Aiwanger persönlich hat das antisemitische Flugblatt, das man einst in seinem Schulranzen fand, als „ekelhaft und menschenverachtend“ bezeichnet. Tatsächlich wiegt das Pamphlet schwer. Darin wird dem Gewinner eines imaginären Bundeswettbewerbs „ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ versprochen. Wer sich derlei ausdenkt, ist kein dummer Junge, sondern Überzeugungstäter.
Schüler und Lehrer beschreiben Hubert Aiwanger als Menschen, der von nationalsozialistischem Gedankengut fasziniert war und offenbar genauso dachte, wie es das Flugblatt nahelegt. In einem Land mit einer historischen Erblast von sechs Millionen systematisch ermordeten Juden ist das für sich genommen keine Kleinigkeit und für jeden Menschen erklärungsbedürftig - auch wenn es 36 Jahre zurückliegt.
Was genau bedauert Hubert Aiwanger eigentlich?
Aiwanger hat aber von Anfang an nichts erklärt, was als Erklärung durchgehen könnte. Er hat die Sache mit dem Flugblatt vielmehr geleugnet, bis sie sich nicht mehr leugnen ließ. Dass plötzlich sein Bruder Helmut die Schuld auf sich nahm, war allem Anschein nach ein Akt familiärer Nächstenliebe. Im Übrigen hat Hubert Aiwanger zwar sein Bedauern über die Ereignisse geäußert. Man weiß nur bis heute nicht, was genau er bedauert. Dem kleinen Bedauern stehen nämlich große Erinnerungslücken und noch größere Beschimpfungen seiner Kritiker gegenüber. Die 25 Antworten auf Söders 25 Fragen sind jedenfalls nichts anderes als eine Frechheit. Aiwanger droht darin sogar Lehrern und Medien, die die Dinge anders beschreiben, statt endlich reinen Tisch zu machen.
Söder sagt, Aiwanger habe sich „spät, aber nicht zu spät“ entschuldigt. Das stimmt allein deshalb nicht, weil die Entschuldigung letztlich nichts wert ist. Und die Anmerkung des Ministerpräsidenten, wonach es keine Beweise dafür gebe, dass Hubert Aiwanger das Flugblatt verfasst oder verbreitet habe, ist formal richtig. Dafür gibt es eine erdrückende Indizienkette. Es ist denn auch bezeichnend, dass Aiwanger auf die Idee, das Gespräch mit der jüdischen Gemeinschaft zu suchen, nicht schon vor Tagen selbst gekommen ist, sondern von anderen darauf gebracht werden muss.
Söders Anmerkung, dass es in Aiwangers politischer Biografie seit dem Vorfall „nichts Vergleichbares gegeben“ habe, ist schließlich insofern ergänzungsbedürftig, als bereits vor Beginn der Flugblatt-Affäre sogar in der CSU niemand bestritt, dass der Chef der Freien Wähler sehr weit rechts steht und sein Sound von dem der AfD kaum zu unterscheiden ist. Das ist ja der Resonanzboden der ganzen Geschichte. Aiwanger beruft sich in seinem Antwort-Katalog nun auf „Fehler aus der Jugendzeit“ und schreibt: „Jedem Menschen muss auch ein Entwicklungs- und Reifeprozess zugestanden werden.“ Exakt dieser Reifeprozess hat bei Aiwanger freilich nicht stattgefunden.
Die CSU hat Angst vor den Freien Wählern
Dass Markus Söder ihn nicht vor die Tür setzt, demonstriert vornehmlich eines: Dass der Ministerpräsident glaubt, nicht anders zu können. Die CSU hat Angst vor den Freien Wählern. Und diese Angst ist größer als der Wille, bei einer für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland wegweisenden Affäre auf den bisherigen Standards zu bestehen. Das wiederum setzt den Standard für alle weiteren Affären und hinterlässt einen Schaden, der nicht wiedergutzumachen ist.