Sicherer Hafen: Salzuflerin wird vor acht Jahren aus dem Mittelmeer gerettet

Bad Salzuflen. Den Moment, als Azeb Eyob (33) die italienische Flagge am Schiff erkennt und ihr bewusst wird, dass sie leben wird, den wird sie nie mehr vergessen. Acht Jahre ist es her, dass sie mit ihrem Mann aus Eritrea über Libyen nach Europa geflohen ist. Als das Schiff auf dem Mittelmeer in Seenot gerät, kommen die Italiener zur Hilfe.

&bdquo;Ich habe vor Glück geweint", erzählt Eyob, und eine Träne glitzert in ihren dunklen Augen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Bad Salzuflen. Dass nach wie vor Menschen im Mittelmeer ertrinken, das kann und will sie einfach nicht verstehen. Um darauf aufmerksam zu machen, erzählt sie ihre Geschichte.

Gemütliche Wohnung am Stadtrand

Azeb Eyob lädt zu sich nach Hause ein. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern, die sieben und vier Jahre alt sind, lebt sie in einer kleinen Wohnung am Stadtrand. Sie haben es sich hier gemütlich gemacht, sind teils modern, teils traditionell eingerichtet. An der Wand hängen Jesus-Bilder, die Familie ist sehr christlich. Zum Gespräch serviert Eyob Datteln und Kekse, hat Tee gekocht. Die zierliche Frau trägt ein kleines Kreuz an ihrer Halskette, sie spricht mit fester Stimme. Ihr Deutsch ist relativ gut, manchmal sucht sie noch nach Worten.

Geboren und aufgewachsen ist Eyob mit acht Geschwistern in einem kleinen Dorf in Eritrea. Bis zur neunten Klasse besucht sie eine katholische Schule, anschließend zieht sie in die Stadt, um eine Ausbildung zur Elektrikerin zu machen. Schließlich wird sie zum Militärdienst eingezogen, arbeitet anschließend für die Armee. &bdquo;In Eritrea muss jeder zum Militär", erzählt sie. &bdquo;Es kontrolliert alles, ist überall." Es sei eine Art Zwangs-, wenn nicht gar Sklavendienst, den die Menschen in Eritrea ausübten. &bdquo;Ich hatte kein Privatleben, keine Zukunft."

Mit 23 Jahren wagt sie erstmals die Flucht

Eyob ist 23, als sie das erste Mal die Flucht wagt. Weder ihren Eltern noch ihren Geschwistern erzählt sie davon. &bdquo;Natürlich ist es illegal, das Land zu verlassen", sagt sie. Mit einer Gruppe, die sie nicht kennt, und einem Schleuser, der im Geheimen alles organisiert hat, geht es in den Sudan. Zwei Wochen ist die Gruppe immer nachts zu Fuß unterwegs, um nicht entdeckt zu werden.

Als sie das Grenzgebiet um Kassala im Sudan erreichen, schlägt das Militär zu. Azeb Eyob wird festgenommen, landet für einige Wochen im Gefängnis im Sudan. &bdquo;Wir waren 30 Frauen in einem kleinen Zimmer, hatten keine Toilette. Ich habe viel geweint", erzählt sie. Teilweise sei das Militär gewalttätig geworden, um den Frauen Informationen zu entlocken.

Zweiter Versuch nach der Freilassung aus dem Gefängnis

Azeb Eyob wird schließlich zurück nach Eritrea gebracht, landet dort für weitere sechs Monate im Gefängnis. Als sie frei kommt, soll sie zurück an ihren Arbeitsplatz. &bdquo;Aber ich ging nicht zurück. Ich wollte nicht bleiben", erzählt sie. Sie bricht sofort wieder in Richtung Sudan auf, nimmt den gleichen Weg noch einmal. Diesmal erreicht sie ihr Ziel, kann ihren Mann nach fast einem Jahr Trennung wieder in die Arme schließen. Ihm war die Flucht bereits zuvor geglückt, erzählt Eyob.

Doch die Reise ist für beide noch nicht vorbei. Ihr Ziel haben sie klar vor Augen: Sie wollen nach Europa, sie wollen Freiheit. Doch sie wissen nicht, wie gefährlich diese Reise werden sollte.

Durch die Hitze des Sahara

Diesmal werden 30 Menschen auf einen Pick-up gepfercht, eine Woche lang dauert die Fahrt durch die Sahara in Richtung Libyen. &bdquo;Es war sehr heiß und anstrengend, wir hatten kaum etwas zu essen und zu trinken", erzählt Azeb Eyob. Wenn sie sich daran erinnert, kommen ihr die Tränen, sie muss ein paar mal tief durchatmen, bevor sie weitererzählen kann.

&bdquo;Die Schleuser waren nicht menschlich, sie waren herzlos", sagt sie mit stockender Stimme. Menschen, die zusammenbrachen, seien einfach liegen gelassen worden – egal, ob tot oder lebendig. &bdquo;Wir haben versucht, sie zu retten, aber sie ließen uns nicht", sagt Eyob. &bdquo;Sie haben uns behandelt wie Tiere."

In Libyen angekommen, müssen die Flüchtlinge alles abgeben, ihnen bleibt nur, was sie am Körper tragen. In einem dunklen Lkw geht es von einer Stadt zur anderen, es folgt ein einmonatiger Aufenthalt in einer großen Halle – auf der einen Seite hausen die Männer, auf der anderen die Frauen.

Das Versprechen vom sicheren Schiff

Dann naht die Überfahrt nach Europa. &bdquo;Uns wurde gesagt, es wäre ein gutes Schiff, man beruhigte uns", erinnert sich Eyob. Doch es sollte anders kommen. &bdquo;Wir waren etwa 300 Leute auf einem kleinen Schiff aus Holz, es war eng", erzählt sie. &bdquo;Ich hatte große Angst zu sterben, ich habe nur gebetet."

Viele hätten geweint, es gab keinen Kapitän. Die Flüchtlinge hätten selbst versucht, das Boot zu steuern. Ohne Erfolg. Drei Tage lang trieben sie auf dem Meer. &bdquo;Wir kamen nicht weiter und wussten auch nicht wohin." Dann endlich retten Italiener die Flüchtlinge vom Schiff, sie werden in ein Lager nach Sizilien gebracht. &bdquo;Wir bekamen etwas zu essen, durften uns frei bewegen. Es war dort viel lockerer als heute", erinnert sich Eyob. &bdquo;Wir waren frei."

In Hamburg endet die Reise, die eigentlich nach Skandinavien gehen sollte

Das Paar will sich über Frankreich nach Norwegen oder Schweden durchschlagen. Doch auf dem Weg dorthin werden sie in Hamburg von der Polizei aufgegriffen und schließlich im November 2013 nach Bad Salzuflen gebracht. &bdquo;Wir hätten nie gedacht, dass wir einmal nach Deutschland kommen", ist Eyob ehrlich. Doch die Freude überwiegt. &bdquo;Wir wollten die Freiheit, egal wo. Wir wollten ohne Angst leben können, eigene Entscheidungen treffen können. All das konnten wir in Eritrea nicht."

In Bad Salzuflen kommen die beiden in einer Flüchtlingsunterkunft unter, sofort beginnt das Paar, die deutsche Sprache zu lernen. &bdquo;Das war uns sehr wichtig, man muss mit den Leuten kommunizieren können", sagt Azeb Eyob. In einem Land zu leben, sich eine Zukunft aufzubauen, ohne die Sprache zu sprechen, das gehe einfach nicht.

Eyobs Mann beginnt eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker und arbeitet noch heute in diesem Beruf. Azeb wird schwanger, ein Jahr nach der Ankunft in Deutschland wird ihre Tochter geboren. Mit ihr geht Eyob zur Krabbelgruppe, um andere Frauen kennenzulernen, gibt die Kleine früh in die Kita.

Die erste eigene Wohnung

Etwa zwei Jahre verbringt die Familie in der Flüchtlingsunterkunft, dann erhält sie ihre offiziellen Papiere und sucht sich eine Wohnung. Das sei gar nicht so einfach gewesen, sagt Eyob. Sie erzählt von rassistischen Beleidigungen ihrer ersten Vermieterin, auch wenn sie nicht alles so genau verstanden habe. Kurz darauf wird Eyob mit ihrem Sohn schwanger. Nach dessen Geburt beginnt auch Eyob eine Ausbildung zur Krankenpflegerin im Krankenhaus in Lemgo, diese absolviert sie bis heute in Teilzeit.

Vor gut zwei Jahren ist die Familie noch einmal umgezogen, diesmal habe sie mehr Glück mit dem Vermieter gehabt. &bdquo;Es gibt eben überall gute und schlechte Menschen", sagt Eyob.

Manchmal vermisst Eyob Eritrea

Sie fühlt sich wohl in Bad Salzuflen. Auch, wenn sie die Menschen in Eritrea manchmal vermisse. Die Deutschen seien doch recht kühl, an Dinge wie Pünktlichkeit habe sie sich erst gewöhnen müssen. Auch die Bürokratie habe ihr zu schaffen gemacht. Trotzdem ist sie froh, hier zu sein. Froh, ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können.

Ob sie stolz auf das ist, was sie sich aufgebaut haben? Azeb Eyob will das nicht so recht beantworten. &bdquo;Ich bin froh, dass wir das Risiko eingegangen sind." Auch wenn das Erlebte zwischendurch immer mal wieder hochkomme.

Ab und an telefoniert sie mit ihren Eltern. &bdquo;Sie sind traurig, weil nur noch zwei meiner Geschwister in Eritrea leben", sagt Azeb Eyob. Ihr größter Wunsch: Ihre Heimat eines Tages frei zu sehen. Damit sie ihren Kindern irgendwann ihr Land zeigen kann.

"Wir möchten nicht, dass Menschen auf dem Meer ertrinken"

Wenn Azeb Eyob im Fernsehen sieht, wie Menschen im Mittelmeer in Not geraten, dann sind ihre eigenen Erlebnisse und die Gefühle sofort wieder da. &bdquo;Ich verstehe nicht, warum sich nichts ändert, es ist noch schlimmer geworden", sagt sie mit Tränen in den Augen. &bdquo;Wie lange soll das noch so weitergehen?"

Damit es nicht mehr so weitergeht, dafür setzt sich der Salzufler &bdquo;Ratschlag" ein. Der Arbeitskreis besteht aus Vertretern gesellschaftlicher Gruppen und bildet ein Netzwerk aus gut 20 Mitgliedern aus Politik, Kirchengemeinden oder Migrantengruppen. Zuletzt hat der Rat mit knapper Mehrheit einem Antrag des &bdquo;Ratschlags" zugestimmt, in dem es darum ging, dass die Kurstadt offiziell &bdquo;Sicherer Hafen" wird. Damit erklärt sich die Stadt bereit, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aus Seenot gerettete Menschen wie Azeb Eyob aufzunehmen.

Reine Symbolpolitik oder Druck aufs Ministerium?

In der Debatte um den Antrag gab es damals auch viel Kritik. So sei das Ganze nicht mehr als &bdquo;reine Symbolpolitik", hieß es. Einer, der das anders sieht, ist Norbert Scherpe. Der 71-Jährige ist nicht nur enger Vertrauter von Azeb Eyob. Er ist auch seit zehn Jahren Mitglied im &bdquo;Ratschlag". &bdquo;Wir möchten nicht, dass Menschen ertrinken", sagt er.

Es sei wichtig, dass Bad Salzuflen auf der Liste der &bdquo;Sicheren Häfen" erscheine und damit ein Zeichen setze. Ihm sei zwar klar, dass das letztendlich nur ein Appell sei und die Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen beim Innenministerium liege. Doch dem falle es letztendlich schwerer, gegen eine mögliche Aufnahme zu argumentieren, wenn die Kommunen im Hintergrund ihre Bereitschaft dazu signalisierten. &bdquo;Das erhöht den Druck aufs Ministerium", sagt Scherpe.

Scherpe gehört längst zur Familie

Nun müsse die Stadt noch stärker nach außen kommunizieren, dass sie Teil der &bdquo;Sicheren Häfen" ist. Und man müsse sehen, welche weiteren Schritte man umsetzen könne.

Norbert Scherpe hat selbst ab 1980 zwölf Jahre lang bei der Stadt Bad Salzuflen im Sozialamt gearbeitet und schon damals Flüchtlinge betreut. Bis zu seiner Pensionierung war er Integrationsbeauftragter in Minden. Eher zufällig lernte Scherpe vor gut sieben Jahren Azeb Eyob und ihren Mann, damals noch in der Flüchtlingsunterkunft, kennen. Er griff der Familie bei vielen Dingen unter die Arme. &bdquo;Er gehört längst zur Familie", sagt Azeb Eyob und lächelt.

&bdquo;Es ist auch eine schöne Erfahrung für mich", sagt Scherpe. Für Eyobs Kinder sei er schon eine Art Opa. &bdquo;Auch ich lerne viel von der Familie", sagt Scherpe. Für Azeb Eyob und ihren Mann sei er von Anfang an eine große Stütze gewesen. Aber sie lobt auch das Flüchtlingsheim, wo man zu Beginn aufgenommen und versorgt wurde. &bdquo;Das war eine wichtige Basis", sagt sie.

Stolz auf das, was sie geschafft haben

Dass sie es dorthin geschafft haben, wo sie heute stehen, darauf ist auch Norbert Scherpe stolz. &bdquo;Das ist nicht selbstverständlich", sagt er. Dass es so gut laufen würde, damit hätte er selbst nicht gerechnet, das gibt er ehrlich zu. &bdquo;Aber sie haben von Anfang an an sich gearbeitet und sind damit auch ein großes Vorbild für die Kinder", glaubt er.

Doch er betont auch: Nicht alle Flüchtlinge sind gleich, auch in der Kurstadt sei die Situation mit manchen Zugezogenen problematisch. &bdquo;Ich plädiere dafür, die Menschen immer erst einmal ohne Vorurteile kennenzulernen", sagt er. In Azeb Eyob und ihrem Mann sehe er in jedem Fall einen großen, positiven Beitrag für die Gesellschaft. &bdquo;Dafür können wir dankbar sein."

Sichere Häfen

&bdquo;Sichere Häfen" ist eine Kampagne, die von der &bdquo;Seebrücke" initiiert wurde. Dabei handelt es sich um eine internationale, politische Bewegung, die sich für sichere Fluchtwege, ungehinderte Seenotrettung und für das Ende des Sterbens an den europäischen Grenzen engagiert, wie es auf der Internetseite heißt. Die Städte, die &bdquo;Sichere Häfen" werden, erklären sich bereit, aus Seenot gerettete Menschen aufzunehmen. Sie sollen ihre politischen Möglichkeiten nutzen, um tatsächliche Veränderungen in der Migrations- und Aufnahmepolitik zu erreichen. &bdquo;Wir verstehen den Weg zum ,Sicheren Hafen als Prozess und stellen konkrete Forderungen", heißt es auf der Webseite. Insgesamt gibt es in Deutschland aktuell 267 &bdquo;Sichere Häfen". In Lippe sind neben Bad Salzuflen bislang Detmold, Blomberg und Leopoldshöhe vertreten. www.seebruecke.org

Sicherer Hafen: Salzuflerin wird vor acht Jahren aus dem Mittelmeer gerettet

Fluchtgeschichten bewegen Frauenkreis der St.-Nicolai-Gemeinde

Das ist die neue Integrationsbeauftragte der Stadt Bad Salzuflen

Salzufler Rat spricht sich gegen Einführung der Bezahlkarte für Flüchtlinge aus

Trumps neue Einreisesperre für zwölf Staaten tritt in Kraft

Kritik an Trumps neuer Einreisesperre für zwölf Staaten

Balance aus Besinnlichkeit und künstlerischer Tiefe begeistert in der Kirche Bergkirchen

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus

0,99 € im ersten Monat

Angebot: Jahresabo nur 99 €