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Bad Salzuflen
"Kann nicht stimmen": Jetzt sprechen ehemalige Mitarbeiter Salzufler Verschickungsheime
| von Alexandra Schaller

Edith und Erwin Steuernagel blättern durch alte Fotos aus ihrer Zeit in Bethesda. - © Alexandra Schaller
Edith und Erwin Steuernagel blättern durch alte Fotos aus ihrer Zeit in Bethesda. (© Alexandra Schaller)

Bad Salzuflen. Entsetzt seien sie gewesen, persönlich angegriffen hätten sie sich gefühlt. Den fünf Frauen, die an diesem Nachmittag im Wohnzimmer von Brigitte Weißbrich zusammengekommen sind, brennt einiges auf der Seele. Alle fünf haben als Erzieherinnen im früheren Kinderkurheim „Haus Roseneck" gearbeitet, der Villa Dürkopp am Obernberg. Alle fünf seien ob des LZ-Artikels, in dem Michael Stein und Sonja von ihrer Zeit als Verschickungskinder im Heim erzählen, fassungslos gewesen. Die Erfahrungen, die die beiden schildern – die fünf Frauen könnten sie nicht nachvollziehen.

Das Quintett, das sind Ursula Lanfermann (70), Brigitte Weißbrich (75), Angelika Bouslim (70) und Beate Schwarzer (64), die fünfte im Bunde will anonym bleiben. Alle haben hauptsächlich in den 1970ern im Roseneck gearbeitet, Brigitte Weißbrich fing 1966 als erste der fünf an, Angelika Bouslim blieb bis 1997, Beate Schwarzer war bis zum Eintritt in den Ruhestand in diesem März noch an der Rezeption der Villa tätig. „Wir haben alle gerne im Roseneck gearbeitet", betont Schwarzer. Stolz sei man darauf gewesen, habe gerne davon erzählt. Der LZ-Artikel, die Vorwürfe, das sei wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.

Keine Poststelle, keine ängstliche Atmosphäre

Vieles, was Sonja und Michael geschildert hätten, könne so nicht stimmen, sagen die fünf. Es habe keine Poststelle im Keller gegeben, keine ängstliche Atmosphäre, die Kinder hätten ihre Wäsche regelmäßig gewechselt. Niemals sei es verboten gewesen, auf die Toilette zu gehen.

Was wohl richtig sei, dass die Kinder beim Essen still sein sollten, erinnert sich Ursula Lanfermann. „Man durfte eben nicht toben", ergänzt Beate Schwarzer. Ohne eine gewisse Strenge hätte das im Speisesaal bei gut 90 Kindern aber auch kaum funktioniert. Und: Wer etwas nicht mochte, musste es auch nicht essen. „Wir haben niemanden gezwungen", sagt Schwarzer.

Gleiches galt für die Mittagsruhe – während die kleineren Kinder schliefen, durften sich die älteren durchaus unterhalten. Nur in ihren Räumen hätten sie sich aufhalten müssen. „Es war damals noch Kurgebiet, die Nachbarn hätten sich sonst über den Lärm beschwert", erzählt Schwarzer.

Heimweh war durchaus ein Thema

Natürlich habe es Kinder mit Heimweh gegeben, sie habe viele getröstet. An ein Mädchen könne man sich erinnern, das so viel geweint habe, dass man es nach ein paar Tagen nach Hause schicken musste. Dass sie nicht mehr zurück zu den Eltern dürften, das habe man keinem Kind eingeredet. „Dafür lege ich meine Hand ins Feuer", betont Schwarzer. Gleiches gelte für angebliche „Bonbons" nach dem Zubettgehen.

Wenn die fünf Frauen an ihre Zeit im Roseneck denken, sind es vor allem die gemeinsamen Erlebnisse, die hängen geblieben sind. „Der Fokus lag auf der Erholung", sagt Andrea Bouslim. Sie hat ein dickes Fotoalbum mitgebracht, zeigt Bilder von Ausflügen zum Hermannsdenkmal und den Externsteinen, von Karnevalsfeiern, Volkstänzen, erzählt von Nachtwanderungen und dass viel gesungen und gebastelt wurde, auch im Wald sei man häufig gewesen, habe Minigolf oder Fußball auf dem gut 6000 Quadratmeter großen Gelände gespielt.

Sieben Gruppen à 12 bis 14 Mädchen oder Jungen habe es gegeben, jede wurde von einer Erzieherin betreut. Zum Abschied aus der sechswöchigen Kur habe es immer eine Feier gegeben. Manche Kinder hätten geweint, als sie abreisen mussten.

Ursula Lanfermann (von links), Angelika Bouslim, Brigitte Weißbrich und Beate Schwarzer werfen einen Blick in ein altes Fotoalbum und schwelgen in Erinnerungen an ihre Zeit als Erzieherinnen im "Haus Roseneck". - © Alexandra Schaller
Ursula Lanfermann (von links), Angelika Bouslim, Brigitte Weißbrich und Beate Schwarzer werfen einen Blick in ein altes Fotoalbum und schwelgen in Erinnerungen an ihre Zeit als Erzieherinnen im "Haus Roseneck". (© Alexandra Schaller)

Post von den Kindern nach der Kur

Brigitte Weißbrich hat einen ganzen Stapel Post herausgesucht. Viele Kinder haben ihr nach der Kur geschrieben, wünschen ihr in den Briefen alles Gute und viel Glück, bedanken sich für die schöne Zeit. Viele seien mehrfach im Roseneck gewesen.

Doch wie erklären sich die Frauen bei all dem Positiven die negativen Erinnerungen, die bei Sonja und Michael hängen geblieben sind? „Ich denke schon, dass sie glauben, was sie sagen", sagt Brigitte Weißbrich. Wie ihre ehemaligen Kolleginnen vermutet sie aber, dass sich die beiden da in etwas hineinsteigerten. Dass durch die Aufarbeitung des Verschickungsthemas Dinge hochkämen, die so gar nicht passiert seien.

Es sei doch seltsam, wenn Erinnerungen erst nach so langer Zeit hochkämen, ergänzt Andrea Bouslim. „Ich glaube eher, dass sie großes Heimweh hatten", meint Beate Schwarzer. Sie befürworte die Aufarbeitung generell. „Ich habe aber das Gefühl, manch einer kommt mit seinem Leben nicht zurecht, und sucht nun einen Schuldigen dafür", mutmaßt Ursula Lanfermann.

BSW-Stiftung drückt ihr tiefes Bedauern aus

Auf Nachfrage, wie es um die Mithilfe bei der Aufarbeitung der Erlebnisse von Verschickungskindern bestellt ist, drückt die Stiftung Bahn-Sozialwerk (BSW), die die Villa Dürkopp heute als Tagungshotel betreibt, den betroffenen Verschickungskindern Michael Stein und Sonja ihr tiefes Bedauern aus. „Es ist sicher nicht leicht, mit solchen Erinnerungen zu leben. Wir verstehen den Wunsch gut, dass sie ihre persönlichen Erfahrungen aufarbeiten möchten", so Adrienne Hinze von der Pressestelle. Allerdings gebe es die BSW-Stiftung in ihrer heutigen Rechtsform erst seit 1997. „Wir können zu der Zeit davor leider keine Angaben machen, da uns hier keine Informationen vorliegen." Man hoffe jedoch, dass die Betroffeneneinen Weg finden, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.

„Fröhliches Chaos" statt bedrückender Atmosphäre im Haus Bethesda

Erwin Steuernagel (89) ist sich ganz sicher: „So kann es nicht gewesen sein." Als er und seine Frau Edith (83) den Bericht über das Kinderkurheim Bethesda in der LZ gelesen haben, seien sie ebenfalls „entsetzt" gewesen – und haben sich direkt bei der Redaktion gemeldet.

Sie wollen ihre Seite der Geschichte erzählen. Erwin Steuernagel hat von 1966 bis 1978 als Hausmeister im Heim an der Moltkestraße, das 1971 vom Evangelischen Johanneswerk übernommen und später Altenheim wurde, gearbeitet. Mit seiner Frau und den drei Kindern hat er bis 1977 sogar in einer Wohnung im Haupthaus gelebt.

Von Überforderung könne keine Rede sein

Von „fröhlichem Chaos" erzählt Edith Steuernagel, wenn sie an die damalige Zeit denkt. Es habe einen großen Garten mit Sandkasten, Karussell und Klettergerüst gegeben. Die Erzieherinnen seien sehr jung gewesen, teilweise war eine von ihnen für drei Kinder zuständig. Von Überforderung könne da keine Rede gewesen sein, sagt die heute 83-Jährige.

Gebürtig stammt das Paar aus Sachsen, kennengelernt haben sie sich bei der Arbeit in einem Kinderheim in Nieder-Ramstadt. Edith Steuernagel ist dort als Krankenschwester tätig, ihr Mann als Hausmeister. Als er seine Meisterprüfung zum Gas-Wasser-Installateur abschließt, sucht er eine neue Herausforderung. Gemeinsam entscheiden sie sich für den Umzug nach Bad Salzuflen. Bereut haben sie das bis heute nicht, sagen sie.

Angenehme Atmosphäre

Erwin Steuernagel habe die Arbeit mit seinen drei Angestellten immer als angenehm empfunden. Er sei als Hausmeister für sämtliche Reparaturen und alles, was eben so anfiel, zuständig gewesen. Und hatte dadurch Einblick in viele Bereiche des größten Salzufler Kinderkurheimes. Davon, dass die kleinen Gäste zum Essen gezwungen wurden, Gewalt vorkam oder eine ängstliche Atmosphäre herrschte, habe er nie etwas mitbekommen, auch wenn man natürlich nichts ausschließen könne. „Aber ich kann nicht bestätigen, was im Bericht behauptet wurde", bezieht er sich auf die Erinnerungen von Rita Conradi im LZ-Artikel.

Man sei immer human mit den Kindern umgegangen, zum Ende jeder Kur habe er als Hobby-Fotograf ein Gruppenbild von den Kindern gemacht, eines hat er herausgesucht. Sein jüngster Sohn Holger hat sich aufs Bild gedrängt, das habe er oft gemacht, erzählt Erwin Steuernagel und lacht. Die eigenen Kinder seien voll integriert gewesen, ergänzt seine Frau, hätten zum Beispiel die Spielgeräte mitgenutzt.

Brigitte Weißbrich hat noch zahlreiche Fotos, die gemeinsame Aktionen mit dem Kindern im "Haus Roseneck" zeigen. - © Alexandra Schaller
Brigitte Weißbrich hat noch zahlreiche Fotos, die gemeinsame Aktionen mit dem Kindern im "Haus Roseneck" zeigen. (© Alexandra Schaller)

Heimweh ist auch in Bethesda Thema

Edith Steuernagel ist als gelernte Krankenschwester in der Zeit ab und an als Nachtwache eingesprungen, meist auf der Isolierstation. „Wir waren für die da, die nicht durchschliefen, haben früh Fieber gemessen und die Kinder gewaschen", erinnert sie sich.

Heimweh, das sei bei den Kleinen natürlich mal vorgekommen, erzählen die beiden. Aber es gab auch die andere Seite der Medaille: Edith Steuernagel erinnert sich an einen Jungen, der sich an sie geklammert habe, weil er nicht zurück nach Hause wollte.

Ehemaliges Verschickungskind empfindet den Aufenthalt in Bethesda ebenfalls als angenehm

Einer, der selbst als Kind im Haus Bethesda zur Kur war, ist der Lemgoer Heinz Schremmer (82). 1939 geboren kommt er als Zehnjähriger in der Nachkriegszeit über den Sommer nach Bad Salzuflen. Zwar ist Lemgo quasi um die Ecke, „aber Bad Salzuflen bedeutete für mich die große weite Welt. Die Möglichkeit, an einer Kinderkur teilzunehmen, war ein Geschenk für mich", erzählt er von bescheidenen finanziellen Verhältnissen zuhause, wenigen Spielsachen oder gar keinen Spielplätzen für Kinder in dieser Zeit.

Er erinnere sich daran, in der Kur direkt mit einem Jungen Freundschaft geschlossen zu haben. Daran, draußen gespielt zu haben, man sei viel wandern und unterwegs gewesen. „Natürlich waren die Erzieherinnen Respektspersonen – aber das war damals so, das war nichts Ungewöhnliches." Er könne sich an nichts Schlimmes erinnern. Im Gegenteil: „Es war für mich eine angenehme, schöne und erlebnisreiche Zeit."

Ihm sei es wichtig, davon zu erzählen. Auch wenn er nicht bezweifle, dass es auch schlechte Erfahrungen gegeben haben könnte. Er vermutet jedoch, dass Menschen mit psychischen Problemen nach der Ursache dafür forschten und dabei auch aufgrund der Medienpräsenz auf die Kur als Ursache kämen. Die Aufarbeitung finde er gut – aber auch übertrieben.

Edith und Erwin Steuernagel sehen das ähnlich. „Es wird viel Negatives geschrieben, vielleicht hat manch einer das Erlebte aus dem Heimweh heraus so ausgelegt." Dennoch befürwortet Erwin Steuernagel die Aufarbeitung generell: „Wo etwas schief gelaufen ist, sollte man auch darüber reden."

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