Schötmaraner will Mut machen: „Für Hochsensibilität muss man sich nicht schämen“

Bad Salzuflen-Schötmar. Lange hat Benjamin Kramer niemandem davon erzählt. Dass er Menschenansammlungen meidet. Dass ihn laute Geräusche oder grelles Licht überfordern. Dass ihm ein Restaurantbesuch den letzten Nerv rauben kann. Benjamin Kramer ist hochsensibel – er nimmt Reize viel intensiver wahr als andere. Doch die vermeintliche Schwäche ist mittlerweile zu seiner Stärke geworden. Das will er jetzt auch anderen Betroffenen vermitteln, vor allem Männern. Denn: &bdquo;Hochsensibilität ist nichts, wofür man sich schämen muss.“

In Bad Salzuflen kennt man Kramer, 41 Jahre, verheiratet, eine erwachsene Tochter – er war unter anderem jahrelang Vorsitzender des Stadtsportverbandes, ist Mitglied im Schützenverein Schötmar. Heute hat er kein Problem mehr damit, offen über die Hochsensibilität zu sprechen. 20 Prozent der Deutschen sind davon betroffen, Männer wie Frauen. &bdquo;Ich würde mir wünschen, dass die Akzeptanz steigt.“

Erste Anzeichen schon als Kind Schon als Kind merkt Kramer, dass er viel empfindsamer für Reize ist als seine Freunde. &bdquo;Ich war leichter abzulenken, brauchte mehr Ruhepausen. Und ich nahm Stimmungen und Gefühle anderer schon damals intensiv wahr“, erinnert er sich. Ist er krank? Oder einfach nur schwach? Nicht nur er selbst, auch sein Umfeld denkt damals so – und viele Jahre bleibt es dabei. &bdquo;Gerade als Mann soll und muss man ja einem Rollenbild entsprechen, stark sein.“

Dabei gibt es Situationen, die es ihm so schwer machen. Wenn er mit seiner Frau essen geht, zum Beispiel. &bdquo;Dann nehme ich alles um mich herum wahr“, sagt er. Das Geklapper im Hintergrund, den Streit am Nebentisch, die Gespräche rundherum, den gestressten Kellner. &bdquo;Und ich fühle mit diesem Kellner mit, mache seine Emotionen zu meinen.“ Reize filtern, das fällt Hochsensiblen so viel schwerer, sie verarbeiten alles um sich herum. Kramer ist dadurch ständig abgelenkt, kann sich auf sein Gegenüber gar nicht konzentrieren, so sehr er es auch versucht. &bdquo;Das erschöpft einen.“

Ungefähr acht Jahre ist es her, da stößt er im Internet zum ersten Mal auf das Stichwort Hochsensibilität – und beginnt sich damit intensiv zu beschäftigen. &bdquo;Das war ein Riesen-Aha-Effekt“, sagt er. Online kann man sich testen, bei jedem Menschen sind die Ausprägungen unterschiedlich. Benjamin Kramer ist besonders geräuschempfindlich und nimmt Gefühle seines Gegenübers intensiver war. &bdquo;Anfangs war das eher negativ, weil ich gar nicht damit umzugehen wusste.“

Selbstständig als Fachberater für Hochsensibilität Das stellt ihn vor allem im Beruf vor Herausforderungen. Der gelernte Betriebswirt hat zunächst als Bankkaufmann, später in Leitungsposition bei der AWO gearbeitet – als er dort Mitarbeitern die Schließung von Einrichtungen in großen Runden verkünden muss, schlägt ihm die volle Bandbreite an Gefühlen entgegen. Trauer, Wut, Verzweiflung, Aggression. &bdquo;Damit konnte ich überhaupt nicht umgehen. Das hat mich auf Dauer krank gemacht.“

Kramer erleidet ein Burn-out, nimmt sich eine längere Auszeit, kommt wieder auf die Beine. Und: Er will etwas ändern. Inzwischen unterrichtet er als Freiberufler an einer Berufsschule in Paderborn und ist an Job-Coaching-Projekten beteiligt. Im November vergangenen Jahres hat er eine eigene Praxis in Schötmar aufgemacht. Unter anderem ist er hier als Fachberater für Hochsensibilität tätig.

Dabei mag er den Begriff ja eigentlich gar nicht. &bdquo;Denn er suggeriert, dass man ständig weinend in der Ecke sitzt. Und gerade bei Männern verbindet man mit ihm Schwäche.“ Er spricht lieber von einer angeborenen Persönlichkeitseigenschaft, Hochsensibilität ist nämlich auch keine Krankheit. Es sei so wichtig, darüber zu sprechen und Vorbehalte auszuräumen.

Bei ihm selbst hat das geklappt – im Familien- und Freundeskreis geht er seit gut einem Jahr offen mit dem Thema um, hat viel erklärt. Und Akzeptanz erfahren, vor allem für manche Verhaltensweisen. &bdquo;Dass wir bei großen Familienfeiern schon mal früher fahren, zum Beispiel.“ Er ist heute mutiger, für das einzustehen, was ihm guttut, sagt er.

Die richtigen Techniken anwenden Zudem trainiert er seit Jahren unterschiedliche Techniken wie Atemübungen. &bdquo;Auch autogenes Training hilft mir sehr, wenn ich mich überreizt fühle.“ Darüber hinaus plant er in seinen Arbeitstag explizit Phasen zum Verarbeiten der Reize ein. 20 Minuten nichts sehen und hören, dazu eine Kurzmeditation, das reicht ihm schon. &bdquo;Aber jeder muss für sich das finden, was ihm hilft, runterzukommen.“

Wenn er heute mit seiner Frau essen geht, versucht er immer, mit dem Rücken zum Gastraum oder in einer Nische zu sitzen. Dazu versucht er, sich vom Drumherum abzugrenzen, stellt sich etwa eine Blase um sich herum vor, an der die Gefühle der anderen vorbeiziehen. &bdquo;Das funktioniert mal besser, mal schlechter - je nach Tagesform. Und es braucht viel Übung.“

Ob ihn die Hochsensibilität einschränke? Das nicht. Selbst Konzertbesuche seien zum Beispiel machbar. &bdquo;Wenn ich vorher genau plane, mir einen Sitzplatz reserviere. Und mir bewusst danach die Zeit nehme, um die Reize zu verarbeiten.“ Das könne ein Tag mit dem Buch auf dem Sofa sein, oder auch der Gang in die Natur. &bdquo;Frische Luft, Wald, wenig Geräusche – das beruhigt maximal.“

Es hat gedauert, bis sich Benjamin Kramer die Vorteile seiner Hochsensibilität erarbeitet hat: Empathie helfe etwa in so vielen Berufen, auch ihm in der Beratung. Dazu die gute Beobachtungsgabe, die Liebe zum Detail. &bdquo;Entweder versucht man die Hochsensibilität zu unterdrücken. Oder man nutzt sie ganz bewusst. Dann kann sie eine Stärke sein“, sagt Benjamin Kramer. Für ihn ist sie es heute definitiv.

Workshop und Vortrag in der Volkshochschule Benjamin Kramer referiert am Mittwoch, 20. März, ab 18.30 Uhr zum Thema &bdquo;Hochsensibilität - Was ist das? Bin ich das auch?“ in der Salzufler Volkshochschule an der Hermannstraße 32. Die Teilnahme kostet 8,50 Euro. Ein Workshop zum Thema &bdquo;Hochsensibel - Ich lebe gut damit“ schließt sich am Samstag, 20. April, von 10 bis 16 Uhr an. Er richtet sich an Menschen, die sich hochsensibel fühlen und mehr zum Thema erfahren möchten - zudem werden unter anderem Strategien zum Umgang mit Hochsensibilität entwickelt und Möglichkeiten der Abgrenzung und Entspannung geübt. Die Teilnahme hierzu kostet 34,50 Euro. Infos und Anmeldung im Internet auf www.vhs-badsalzuflen.de oder per E-Mail an volkshochschule@bad-salzuflen.de

Kramer hofft, dass sich aus diesen Begegnungen mit anderen hochsensiblen Menschen möglicherweise auch über die Kurse hinaus Gesprächsrunden ergeben. Ein Gesprächskreis, der 2020 von der Selbsthilfe-Kontaktstelle des Paritätischen im Kreis Lippe beworben wurde, besteht derweil nicht mehr, heißt es dort auf Nachfrage. Anfragen dazu gebe es jedoch regelmäßig. Kontakt zur Paritätischen unter Tel. (05231) 561260.

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