Blomberger flüchtet auf dem Frachter, der Opfer der „Wilhelm Gustloff“ rettet

Blomberg. Seinen fünften Geburtstag hat Manfred Krokowski noch gut in Erinnerung. Es war ein besonders schöner Geburtstag an einem besonders schönen Ort - am 3. August 1944 in Ostpreußen. Ausgerechnet gen Osten hatte sich seine Mutter Auguste mit ihrem Kleinkind aus Gelsenkirchen evakuieren lassen. Wer konnte auch zu jenem Zeitpunkt ahnen, dass ein halbes Jahr später die russische Siegermacht das Land überrollen würde?

Obwohl die Wurzeln der Familie in Ostpreußen liegen, kommt Manfred Krokowski im Sommer 1939 in Gelsenkirchen-Horst zur Welt, wo seine Eltern der Arbeit wegen hingezogen sind. Doch knapp einen Monat nach seiner Geburt, am 1. September 1939, wird sein Vater eingezogen: &bdquo;Meine Taufe musste extra vorverlegt werden“, berichtet der 85-Jährige.

Das Ruhrgebiet in Schutt und Asche Als viereinhalb Jahre später schwere Bombenangriffe das Ruhrgebiet erschüttern, entschließt sich die Mutter, zu ihrer Familie nach Ostpreußen zu ziehen. Manfred Krokowski berichtet von einem Schlüsselerlebnis: Die Mutter sucht mit dem Sohn Schutz in einem großen Bunker an der Stadtgrenze zu Gladbeck. Nur mit Glück werden die beiden überhaupt reingelassen, da sie keine Gladbecker Bürger sind. Als sie wieder herauskommen, liegt vieles in Schutt und Asche.

Als Mutter und Sohn im Frühjahr 1944 in Großwalde (Kreis Neidenburg, heute: Rekownica), ganz im Süden von Ostpreußen, ankommen, ist dort nicht viel vom Krieg zu spüren. Es gibt genug zu essen, weil die Großeltern einen bäuerlichen Betrieb führen. Die Landschaft ist wunderschön, hinterm Haus fließt ein Fluss, in der Nähe gibt es Badeseen, Orte mit kuriosen Namen wie Schuttschenofen - Ruhe und Natur.

Es ist eine schöne Zeit, doch ein dreiviertel Jahr später müssen Mutter und Sohn erneut fliehen - zurück nach Westen, denn die Rote Armee rückt im Osten vor. Am 19. Januar 1945 schließt sich die Mutter mit ihrem kleinen Sohn einem Treck an, während die Großeltern zurückbleiben, und ihr Hab und Gut sowie ihren Hausstand unter einer Scheune vergraben. Manfred Krokowski schüttelt heute den Kopf ob des sinnlosen Unterfangens.

&bdquo;Mama, lass uns hier sterben“ Zu Fuß wollen sie die Ostsee erreichen, um sich ausschiffen zu lassen, denn der Landweg ist längst abgeschnitten. &bdquo;Meine Mutter hat sich aber bald von dem Treck getrennt, das ging ihr zu langsam.“ Die beiden kommen gut voran, werden immer wieder von deutschen Militärlastwagen mitgenommen. Doch der Weg ist beschwerlich, es herrscht eisige Kälte. Einmal machen sie unter einer Unterführung Rast: &bdquo;Meine Mutter hat später immer erzählt, dass ich dort gesagt habe: Mama, lass uns hier sterben.“

Pillau am frischen Haff, weit im Nordosten, erreichen sie schließlich Ende Januar. Hier werden die Flüchtlinge massenhaft nach Swinemünde ausgeschifft. Auch die &bdquo;Wilhelm Gustloff“ nimmt fast 11.000 Menschen auf. Auguste Krokowski kommt mit ihrem Sohn und rund 3300 anderen Passagieren, fast nur Frauen und kleine Kinder, auf dem Frachter &bdquo;Gotenland“ unter, der fast zeitgleich in See sticht. &bdquo;Das Schiff musste geschleppt werden, weil die Ruderanlage nach einem Bombenangriff zerstört war“, berichtet Krokowski, der später viel über das Schiff und die Reise recherchiert hat; unter anderem auch, dass es eine besondere Geschichte hatte, deportierte es doch wenige Jahre zuvor norwegische Juden in die Konzentrationslager nach Deutschland.

Die Fahrt nach Swinemünde dauert einige Tage, Manfred Krokowski weiß davon vor allem aus den Erzählungen seiner Mutter, die immer wieder von einem echten Wunder zu berichten wusste: Denn der Kapitän der &bdquo;Gotenland“ fährt am Abend des 30. Januar 1945 an der Stelle vorbei, wo die &bdquo;Wilhelm Gustloff“ gerade nach einem Torpedoangriff eines russischen U-Boots gesunken ist. Und er kann noch neun Schiffbrüchige aus dem eiskalten Wasser retten. Am Ende überleben von den 10.582 Flüchtlingen an Bord nur 1239.

Mutter und Sohn haben Glück und werden am 1. Februar 1945 in Swinemünde ausgeschifft. Mit Bussen geht es weiter nach Mecklenburg, für die beiden endet die Flucht zunächst in dem Dorf Zepkow im Kreis Röbel. &bdquo;Wir waren bei einer Familie einquartiert, die uns gut aufgenommen hat.“ Mutter, Großmutter, eine ältere Tochter und ein Sohn, etwa drei Jahre jünger als Manfred selbst, leben im Haus, der Familienvater ist im Krieg. &bdquo;Zu essen gab es genug, und wir haben immer das Gleiche bekommen wie sie. Auf dem Hof gab es Kühe und Milch, und sie haben sogar Kartoffeln an ihre Schweine verfüttert.“ Welch ein Luxus in der Hungersnot!

Zwangsarbeiter nimmt Rache am Dorf Die Zeit der Ruhe währt nicht lange, nur bis April: &bdquo;Dann kamen die Russen ins Dorf und alle haben sich versteckt.“ Doch die Vorhut zieht rasch weiter, ihr Ziel ist Berlin. &bdquo;Was danach kam, versetzte die Bewohner in Angst und Schrecken.“ Von Vergewaltigung sei immer die Rede gewesen, der Fünfjährige weiß aber mit dem Wort noch nichts anzufangen. Dafür erlebt er Bluttaten: Ein Zwangsarbeiter aus der damaligen Sowjetunion habe Rache an dem Dorf und vor allem dem Ortsgruppenführer nehmen wollen. Zusammen mit einem russischen Soldaten dringt er in dessen Haus ein und lässt den Nazi erschießen. Immer wieder suchen Banden das Dorf heim und überfallen die Bewohner.

Gewalt und Tod, Übergriffe und Plünderungen sind in diesen Tagen an der Tagesordnung - eine junge Frau sei mit einem Messer von dem rachsüchtigen Zwangsarbeiter völlig entstellt worden - der kleine Manfred sieht ihre äußeren Verbände. Immer wieder seien Rotarmisten auch in ihr Haus eingedrungen, mit dem Gewehr im Anschlag, hätten Frauen und Kinder mit dem Tode gedroht, wenn sie nicht ihre Uhren - &bdquo;Uri, Uri“ - heraus gäben: &bdquo;Die Tochter der Familie war so um die 20 und hielt sich immer versteckt. Und später hat sich auch meine Mutter mit mir versteckt, wenn die Russen kamen.“

Im Herbst 1945 werden Mutter und Sohn ausgewiesen. Mit offiziellem Schreiben vom 9. November 1945 erhalten sie vom kommissarischen Oberbürgermeister, Wohnungsamt Gelsenkirchen-Horst, die Mitteilung, dass gegen ihre Rückkehr keine Bedenken bestehen und es auch eine Wohnmöglichkeit gibt – an ihrer alten Anschrift. Es geht erneut zurück nach Westen. &bdquo;Auf abenteuerliche Weise haben wir uns durchgeschlagen: Mal zu Fuß, mal in überfüllten Zügen, die Grenze zum amerikanischen Sektor überquerten wir bei Nacht und Nebel, geschlafen haben wir auf Bahnhöfen, wie wir uns ernährt haben, weiß ich nicht mehr.“

Eine ganz andere Frau Als die beiden in Gelsenkirchen ankommen, ist ihre Wohnung jedoch anderweitig belegt. Wochenlang leben sie bei Verwandten, bis sie zurückkönnen. Der Vater kehrt 1949 auch heim - aus amerikanischer und russischer Gefangenschaft: &bdquo;Er hat immer gesagt: Meine Mutter ist in der Zeit eine ganz andere Frau geworden.“ Selbstbewusst. Entscheidungsfreudig. Emanzipiert. Vermutlich das einzig Positive, das die Zeit hervorgebracht hat.

Manfred Krokowski lebt inzwischen schon seit Jahrzehnten in Blomberg, wo er eine gute Anstellung als Prokurist bei der Blomberger Holzindustrie fand. Der Einmarsch der Russen in die Ukraine hat ihn massiv erschüttert. Plötzlich sind all die schlimmen Kriegserlebnisse wieder da.

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