Selbsthilfe für Stomaträger in Lippe: „Lieber den Beutel am Bauch als den Zettel am Zeh“

Kreis Lippe . Drei Generationen, drei lachende Münder, drei strahlende Augenpaare. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, aber eines eint Marcus Alf (32), Helga Mahner (87) und Sabine Brüggemann (58) offensichtlich: Unbändige Freude, zu leben. Dass sie das können, haben sie unter anderem dem Beutel an ihrem Bauch zu verdanken. Genauer gesagt, dem, was buchstäblich dahintersteckt. Ein künstlicher Darmausgang, ein Stoma.

Vor wenigen Monaten hat Sabine Brüggemann den Stoma-Treff Detmold gegründet, eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Stoma und ihre Angehörigen.

Große Erleichterung

Sie selbst war gerade mal 19, als ihr zum ersten Mal ein künstlicher Darmausgang gelegt wurde. Sie litt schon damals an Morbus Crohn, einer chronischen Entzündung des Darmtraktes. Eine Krankheit, die an sich schon eine Qual ist und am Ende auch zur Entfernung des Dickdarms geführt hat.

Das heißt, in einer aufwendigen Operation wurde der Dünndarm, der normalerweise in den Dickdarm und am Ende ins Rektum mündet, durch ein Loch in der Bauchdecke geführt und dort angenäht. Ein winziges Stück des Dünndarm schaut durch das Loch, es ist schmerzunempfindlich, weil in der Darmschleimhaut keine Nerven sind. Darüber stülpt man eine dünne Kunststoffplatte mit einem Loch in der Mitte, das genau auf den Durchmesser des Darmstücks zugeschnitten ist. Sie wird auf dem Bauch rund um das Loch festgeklebt und dient als Träger für den wasserdichten Beutel, der nun ebenfalls mit entsprechendem Loch aufgeklebt wird.

Es sollte keiner merken

Für Sabine Brüggemann als junge Frau der absolute Horror: Die Vorstellung, niemals wieder wie andere Menschen Stuhlgang zu haben, Zeit ihres Lebens so einen Beutel am Bauch zu tragen, um ihre Ausscheidungen aufzufangen. &bdquo;Ich wollte damals, dass das auf keinen Fall irgendjemand mitbekommt, das wussten nur meine engsten Freunde“, erzählt sie.

Heute, nach all den Jahrzehnten, in denen die Fremdsprachenkorrespondentin trotz des Handicaps unter anderem in London, Genf und Portugal gelebt hat, geritten ist und im Hotelfach gearbeitet hat, sagt sie: &bdquo;Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätte ich wahrscheinlich niemals so viel Angst davor gehabt.“

Plötzlich beschwerdefrei

Sie hatte sich auch nicht vorstellen können, wie groß die Erleichterung sein würde, als der Dickdarm und damit der größte Entzündungsherd entfernt wurde: &bdquo;Mein ganzer Stress durch die Krankheit war weg, denn die Beschwerden war ich plötzlich los.“ Ihr ist aus eigener Erfahrung klar: &bdquo;Was ein Stoma bedeutet, das kann man Menschen ganz schwer vermitteln, man muss es am eigenen Leib erlebt haben.“ Doch die Angst kann man Betroffenen nehmen, davon ist sie überzeugt.

So sieht es auch der 32-jährige Marcus Alf aus Lage. Der junge Ingenieur hatte keine Wahl, als bei ihm Darmkrebs diagnostiziert wurde: Am künstlichen Darmausgang ging kein Weg vorbei. Ein Schock, aber auch das Bewusstsein: &bdquo;Das Stoma hat mir das Leben gerettet.“

Seither hat er ein Haus gebaut, hat einen kleinen Sohn, lebt sein Leben weitgehend unbeeinträchtigt. &bdquo;Nur schwer heben darf man mit Stoma nicht. Das ist dann manchmal ziemlich blöd, wenn ich beispielsweise bestimmte Arbeiten im Garten nicht mehr selbst machen kann.“

&bdquo;Wenn einer guckt, soll er doch gucken“

Und er muss schwer aufpassen: Je älter das Söhnchen wird, desto weniger kann er ihn hochnehmen. Aus seinem Beutel macht er keinen Hehl: &bdquo;Ich gehe da total offen mit um, ich laufe auch auf Mallorca mit nacktem Oberkörper herum, wenn einer guckt, soll er doch gucken. Und wenn ich drauf angesprochen werde, dann erkläre ich es halt.“

Schwimmen gehen, Sexualität: Das alles ist möglich. &bdquo;Da haben sich auch die Angebote total verändert“, erzählt Sabine Brüggemann. &bdquo;Mittlerweile gibt es auch Dessous für Stomaträgerin, beispielsweise aus schwarzer Spitze.“

Umstellung mit 87

Aber all dieses Wissen und die Erfahrungen müssen sich erst mal bilden bei den Betroffenen. Zum Beispiel bei Helga Mahner, die mit 87 Jahren noch ein Stoma bekommen hat. &bdquo;Ich dachte am Anfang, damit komme ich nie zu recht.“ Doch schließlich hat sich mal in der Reha jemand die Zeit genommen, ihr das Handling zu erklären, und seither kann die Witwe, die gerade erst aus dem Allgäu nach Lippe zu ihrer Tochter gezogen ist, selbstständig den Beutel wechseln. Gleichwohl genießt sie den Austausch in der Selbsthilfegruppe, &bdquo;das tut mir gut.“

&bdquo;Ich bin halt das Beuteltier“

Denn das Thema Stoma ist immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft, unter anderem aber wohl auch, weil sich so wenige Menschen etwas darunter vorstellen können. Ein offener Umgang tut allen dreien gut, und anscheinend auch den anderen acht Teilnehmern der Gruppe.

Beispielsweise auch dem 43-jährigen Vater von drei halbwüchsigen Kindern: &bdquo;Ich bin in der Familie halt das Beuteltier, was soll’s?“ Dazu passt gut der Mutmach-Song für Beutelträger, in dem es heißt: &bdquo;Lieber den Beutel am Bauch als einen Zettel am Zeh“.

Es geht nicht nur um die Krankheit

Eines ist den Initiatoren ganz wichtig: &bdquo;Schwerpunkt unserer Treffen ist nicht immer die Krankheit, vielmehr ist es uns wichtig, unter Gleichgesinnten zu sein und Rücksicht und Verständnis zu erfahren und einzubringen.

Der Stoma-Treff findet jeden ersten Dienstag im Monat von 18 bis 19.30 Uhr im Medicum des Klinikums Lippe in Detmold, Röntgenstraße 16, statt, im Kongresszentrum, vierte Etage, Raum 2. Ansprechpartner sind Sabine Brüggemann, Tel. (0175) 1614504 und Marcus Alf, Tel. (0170) 8157735.

Sie erreichen die Autorin des Artikels unter Tel. (05231) 911242 oder auch per E-Mail an mschwarzer@ lz.de .

Transparenzhinweis: Der Text wurde nachträglich noch korrigiert, weil sich zwei inhaltliche Fehler eingeschlichen hatten.

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