Lemgoer Studie: Ob im Verkehr oder bei der OP - Zeitumstellung kann gefährlich werden

Lemgo. Am Sonntagmorgen um 3 Uhr ist es wieder so weit. Ein Datum, das Philipp Neumann seit Monaten umtreibt. Die Zeitumstellung steht an. Von Sommer- auf Winterzeit werden die Uhren eine Stunde zurückgestellt. Doch ist das sinnvoll? Dem ist der wissenschaftliche Mitarbeiter der Technischen Hochschule OWL im Rahmen seiner Promotion nachgegangen. Ein Rundumschlag, der sich mit den Folgen für Ökonomie, Gesundheit, Kriminalität, Verkehr und Elektrizität beschäftigt. Über 360 Studien hat der 28-Jährige dafür gelesen und eine wissenschaftliche Aufbereitung erstellt, die es so wohl noch nicht gegeben hat – mit alarmierendem Ergebnis.

Herr Neumann, Sie müssen es wissen: Sollte die Zeitumstellung abgeschafft werden?

Philipp Neumann: Ein ganz klares Ja. Wir sollten die Normalzeit, also die Winterzeit dauerhaft einführen.

Stand dieses Urteil für Sie vor Ihrer Arbeit schon fest?

Philipp Neumann: Nein. Ich habe ein Jahr zu dem Thema recherchiert und war vorab eher der Meinung: Es ist doch schön, die langen hellen Sommerabende zu genießen. Und damit ging es mir vermutlich wie vielen. Es war eine gefühlte Einschätzung, ohne dass sie auf Fakten beruhte. Jetzt weiß ich, dass es eindeutige Argumente für die dauerhafte Rückkehr zur Winterzeit gibt.

Dabei betrachten Sie fünf Aspekte: Elektrizität, Gesundheit, Verkehr, Kriminalität und Wirtschaft. Gab es nicht schon genug Studien.

Philipp Neumann: Ja, aber eben nur für Teilbereiche. Bislang gab es noch keine wissenschaftliche Aufbereitung des gesamten Komplexes. Und das ist nötig, um die Folgen der Zeitumstellung in Gänze beurteilen zu können. Einzelne Aspekte greifen da zu kurz.

Kommen wir zu den einzelnen Aspekten. Welche Folgen hat die Zeitumstellung denn für die Gesundheit?

Philipp Neumann: In diesem Bereich sind die Studien mehr als deutlich. Alles spricht gegen die Zeitumstellung. Unser Biorhythmus, also die innere Uhr, ist am Sonnenstand orientiert. Da ist etwa das Stresshormon, das über das Sonnenlicht aktiviert wird. Es hilft uns zum Beispiel, morgens wach zu werden. Im Durchschnitt schlafen wir in der Sommerzeit etwa 20 Minuten weniger pro Nacht. Und das ist durchaus relevant. Denn Schlaf gilt als ein großer Gesundheitsfaktor.

Das heißt, aufgrund von Schlafmangel kommt es in der Sommerzeit verstärkt zu Krankheiten?

Philipp Neumann: Studien bestätigen, dass beispielsweise Schlaganfälle oder Herzinfarkte häufiger vorkommen. Es gibt nach der Zeitumstellung mehr Fehlgeburten und auch Magen-Darm-Probleme nehmen zu. Etliche Krebsarten scheinen begünstigt zu werden. Ebenso hat die Zeitumstellung nachweislich Folgen auf die Psyche. Auch der Stoffwechsel ist betroffen. Um ihn anzukurbeln, verspüren viele mehr Drang zu Süßigkeiten und nehmen an Gewicht zu. Die Studien sind in dem Bereich Gesundheit ganz eindeutig: Die Zeitumstellung hat gravierende Folgen für die Gesundheit.

Wie sieht es mit der Elektrizität aus? Das Einsparen von Energie war ja der eigentliche Grund für die Einführung der Zeitumstellung.

Philipp Neumann: Hier ist die Auswertung ähnlich eindeutig. Die Zeitumstellung wurde 1916 erstmalig in Deutschland eingeführt, damals, um Energie für die Kriegsproduktion zu sparen. Später wurde der Einspareffekt über die Beleuchtung wieder aufgegriffen. Die Idee: Abends ist es länger hell, da benötigen wir weniger künstliches Licht. Doch die Zeiten haben sich gravierend geändert.

Das heißt, Strom wird über die Zeitumstellung gar nicht mehr eingespart?

Philipp Neumann: Früher hatte die Beleuchtungsenergie noch einen größeren Anteil am Stromverbrauch, doch das hat sich mit der LED-Technik entscheidend geändert. Die ist so energieeffizient, dass die Beleuchtung beim Stromverbrauch kaum noch eine Rolle spielt. Da sind mittlerweile eher E-Autos oder auch Klimaanlagen ein Thema. Laut neuester Studie liegt die Energieersparnis dank Zeitumstellung bei 0,04 Prozent, umgerechnet bei etwa 50 Cent jährlich pro Haushalt. Im Grunde gibt es also gar keinen Spareffekt.

Zwei zu Null gegen die Zeitumstellung. Wie sieht es bei der Kriminalität aus? Sind weniger Langfinger unterwegs?

Philipp Neumann: Je länger es abends hell ist, desto weniger Einbrüche und Überfälle, so war die Annahme. Denn die Kriminellen sind großteils nach Sonnenuntergang aktiv. Ob es in diesen Bereich mit der Zeitumstellung wirklich zu weniger Delikten gekommen ist, das gibt die Studienlage aber leider nicht her.

Und was ist mit dem Verkehr? Wie sieht es auf den Straßen auf?

Philipp Neumann: Nun zumindest hier könnte sich die Zeitumstellung zum Teil positiv auswirken. Feierabendverkehr und Rushhour finden großteils noch im Hellen statt, das hat auch weniger Unfälle zur Folge. Allerdings zeigen Studien, dass dieser Effekt erst gut eine Woche nach der Umstellung greift. Und hier kommt das große Aber: Weil es morgens länger dunkel bleibt und sich vor allem Fahranfänger mit den veränderten Bedingungen schwertun, kommt es anfangs zu mehr Unfällen. Studien belegen, dass es direkt nach der Umstellung auf die Winterzeit mehr tödliche Unfälle auf der Straße gibt.

Also am kommenden Montagmorgen lieber nicht ins Auto steigen?

Philipp Neumann: Nun, zumindest sollten Sie deutlich vorsichtiger fahren. Das gilt auch für Fußgänger und Fahrradfahrer. Auch sie sind direkt nach der Umstellung einer erhöhten Gefahr ausgesetzt.

Bleibt die Wirtschaft. Hat die Zeitumstellung denn in dieser Hinsicht wenigstens Vorteile?

Philipp Neumann: Im Gegenteil, es überwiegen die negativen Aspekte. Aufgrund von Schlaflosigkeit und Müdigkeit sinkt nicht nur die Produktivität der Mitarbeiter, es kommt auch zu mehr Betriebsunfällen aufgrund von Unachtsamkeit. Studien belegen auch, dass Ärzte nach der Zeitumstellung im Frühling mehr Fehler machen.

Oha, was heißt für die Patienten?

Philipp Neumann: Es gibt eine Studie aus der Notaufnahme, die auf Defizite nach der Zeitumstellung bei Ärzten hinweist. Was das für Patienten bedeutet? Tja, vielleicht würde ich eine schwierige OP nicht direkt auf einen Tag nach der Zeitumstellung legen.

Und allem liegt der Schlafmangel als Folge der Störung der inneren Uhr zugrunde?

Philipp Neumann: Davon können wir ausgehen. Auch die Bildung ist betroffen. Je höher der Bildungsgrad, desto besser ist es für die Volkswirtschaft. Studien zeigen aber, dass Schüler dauerhaft schlechtere Ergebnisse erzielen, wenn sie in Gebieten mit Sommerzeit leben.

In den USA wurden in einer Studie zwei Bundesstaaten verglichen, einer mit, einer ohne Zeitumstellung. Die Schüler in dem Bundesstaat ohne Zeitumstellung schnitten um 20 Prozent besser ab.

Das Ergebnis Ihrer Studie ist eindeutig. Kann das bei den anstehenden Entscheidungen weiterführen? Schließlich ist die Abschaffung der Zeitumstellung seit 2018 in der Europäischen Union Thema.

Philipp Neumann: Sicherlich wird die Studie ein wichtiger Input für die Entscheidungsträger sein, weil sie Fakten zusammenträgt, wie es sie bislang noch nicht gegeben hat. In den USA wurden meine Ergebnisse bereits in politischen Debatten diskutiert.

Warum tut sich beim Thema Zeitumstellung denn so wenig? Zumindest in Deutschland gibt es sehr viele kritische Stimmen und eigentlich hätte in der EU schon längst eine Entscheidung fallen sollen.

Philipp Neumann: Letztlich befürchtet die Europäische Kommission wohl einen Flickenteppich unterschiedlicher Zeitzonen. In Deutschland haben sich viele Bürger für die Sommerzeit ausgesprochen, weil dann auch die Sommerabende länger sind.

Eine dauerhafte Sommerzeit würde aber zu Problemen führen?

Philipp Neumann: Nun letztlich gibt es zur dauerhaften Sommerzeit noch keine aussagekräftigen Untersuchungen. Aber zu bedenken wäre, dass wir in der Sommerzeit in Deutschland im Schnitt dauerhaft eine Stunde vor der festgelegten Sonnenzeit leben würden. Also dem Zeitmaß, das sich am Lauf der Sonne orientiert. Unter ganzjähriger Sommerzeit wären etliche Körperfunktionen nicht mehr in Takt mit dieser Sonnenzeit. Da entspricht die Winterzeit eher dem Sonnenstand. Steht die Sonne an einem Ort der Welt im Zenit, ist dort 12 Uhr Mittag nach wahrer Ortszeit. Und eben dieser Sonnenstand ist in den Zeitzonen sehr unterschiedlich. Für Spanien etwa würde die dauerhafte Sommerzeit bedeuten, dass es im Januar erst um 10 Uhr hell würde.

Ihr Ansatz wäre also: Dauerhafte Winterzeit und die Zeitzonen anpassen?

Philipp Neumann: Genau. Die Lösung wäre, die Winterzeit zu nehmen und dazu wieder Zeitzonen von Westen nach Osten zu etablieren, so wie es sie früher schon gegeben hat. Das heißt, auf Höhe Frankreich, Spanien und den Beneluxländern würde die Zeitzone UTC 0 gelten ( UTC ist die 1972 eingeführte koordinierte Weltzeit, Anmerkung der Redaktion ). Östlich davon, also von Deutschland bis Polen würde sich nichts ändern, um sich bestmöglich am Sonnenstand zu orientieren. Damit hätte man viele Probleme gelöst.

Zur Person Philipp Neumann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Technischen Hochschule OWL mit Sitz in Lemgo. Derzeit promoviert er im Bereich Volkswissenschaften. Im Zuge seiner Promotion hat er sich auch ein Jahr lang mit der Zeitumstellung befasst. Philipp Neumann ist 28 Jahre alt und lebt in Bad Salzuflen.

Lemgoer Studie: Ob im Verkehr oder bei der OP - Zeitumstellung kann gefährlich werden

Lippische Studie beleuchtet Folgen der Zeitumstellung

Zeitumstellung neu gedacht: Besser im April statt im März

Die Winterzeit kommt - Uhren werden Sonntag zurückgestellt

Uhren zurückgestellt - Deutschland wieder im Wintermodus

Spanien will Ende der Zeitumstellung

Sommerzeit hat begonnen: Die Uhren wurden vorgestellt