„Schutz der Allgemeinheit“: Ungeimpfte Kinder dürfen in Dörentrup nicht zur Grundschule

Dörentrup. Sechzehn Tage lang durften sie nicht die Schule besuchen, verpassten einen Ausflug, kamen nicht mit aufs Klassenfoto und schauten auch beim Schulkino in die Röhre - zehn Kinder einer zweiten Klasse der Grundschule West in Dörentrup. Der Grund: Es hatte dort in der letzten Septemberwoche einen Windpocken-Fall gegeben. Da die betroffenen Kinder nicht gegen die Kinderkrankheit geimpft sind, griff das Infektionsschutzgesetz, das in diesem Punkt erst im Oktober 2022 verschärft wurde. Mit der expliziten Aufnahme von Windpocken ist seitdem klarer geregelt, dass Kinder bei einem Ausbruch in Kita oder Schule vom Besuch ausgeschlossen werden können.

In einer E-Mail der Schulleitung vom 29. September wurden die Eltern darüber informiert, dass nicht geimpfte &bdquo;Kontaktpersonen“ ab dem folgenden Tag daheimbleiben mussten. Auch die Nachmittagsbetreuung fiel flach - für die berufstätigen Eltern eine große Herausforderung. Zumal sie, da ihre Kinder ja gesund waren, keinen Anspruch auf Kinderkrankentage hatten - und sie über diese potenzielle Folge ihrer Impfentscheidung nicht ausreichend informiert gewesen seien.

&bdquo;Massiver Eingriff“ &bdquo;Diese Regelung empfinden wir als unverhältnismäßig und pädagogisch wie auch epidemiologisch kaum nachvollziehbar“, schreibt eine der Mütter, Bettina Frevert, &bdquo;im Namen mehrerer Eltern“ in einem Brief, der in ähnlichem Wortlaut nicht nur der LZ, sondern unter anderem auch dem Gesundheitsamt, dem Landesministerium für Schule und Bildung sowie der Schule selbst zugegangen sei. Der Ausschluss sei &bdquo;ein massiver Eingriff in das soziale Leben der Kinder im Klassenverbund“. Dass das Infektionsschutzgesetz über der Schulpflicht ihrer nicht erkrankten Kinder stehe, sei für sie unverständlich.

Bettina Rethmeier, Rektorin des Grundschulverbunds Dörentrup, kann den Unmut der Eltern nachvollziehen. &bdquo;Das bedeutet einen Riesen-Einschnitt für die Kinder.“ Bislang sei der Fall beispiellos, wie sie sagt: &bdquo;An unserer Schule ist es das erste Mal vorgekommen.“ Sie stellt klar, dass der Ausschluss der Kinder nicht in ihrer Hand gelegen habe. &bdquo;Wir müssen das Auftreten melden“, alles Weitere regle dann, wie auch bei Kitas, das Gesundheitsamt. Im Jahr 2024 sorgte die Blomberger Kita Storchennest für Aufsehen: Dort durften ungeimpfte Kinder die Einrichtung ebenfalls für 16 Tage nicht besuchen.

Fakt sei jedoch: &bdquo;Kein Mensch muss seine Kinder gegen Windpocken impfen“, so Rethmeier. Sie vergleicht diesen Aspekt mit der Grippeschutzimpfung. Die Folgen seien bei einer Entscheidung gegen die Varizellen-Immunisierung gleichwohl drastischer. Darauf will die Rektorin die Eltern in Zukunft noch deutlicher hinweisen. So habe sie auch an das Gesundheitsamt zurückgemeldet, dass schon bei der Schuleingangsuntersuchung besser informiert werden sollte. &bdquo;Denn das Kleingedruckte in der Infektionsbelehrung wird wohl von vielen überlesen.“

&bdquo;Sie soll die Erkrankung durchmachen“ Ortstermin in Dörentrup. Mutter Bettina Frevert sitzt am Tisch ihrer offenen, hochglanz-weißen Küche. Kinderbilder an der Kochinsel, ein großes Barbie-Traumhaus im Wohnzimmer. &bdquo;Windpocken“, sagt Frevert, &bdquo;haben in der Regel keinen schlimmen Verlauf“. Anders als etwa bei Masern, Mumps und Röteln sei die Impfung eine freie Entscheidung der Eltern. &bdquo;Meinem Mann und mir ist es lieber, dass sie die Erkrankung durchmacht“, sagt Frevert.

Der Schutz vor einer Ansteckung sei dadurch umfassender als bei einer Impfung, wo ein Restrisiko für sogenannte Durchbrüche bestehe. Hintergrund: Eine Varizellen-Infektion in der Schwangerschaft kann Risiken für das ungeborene Kind bergen. Warum sollte man die in Kauf nehmen? So weit Freverts Standpunkt, den in der Klasse wohl noch neun andere Elternpaare so oder ähnlich teilten. Tatsächlich ist bei den meisten der Spuk mit etwas Fieber und den juckenden, flüssigkeitsgefüllte Bläschen schnell vorbei, doch bei rund fünf Prozent der Fälle kommt es zu Komplikationen. Dazu zählen bakterielle Superinfektionen der Haut, Lungen- oder Gehirnentzündungen.

Das Ziel: Herdenimmunität Vor Einführung der Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) im Juli 2004 erkrankten in Deutschland jährlich etwa 750.000 Personen an Windpocken. Im Prinzip also: fast alle Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren. Im Jahr 2024 wurden nur noch knapp 20.000 Fälle gemeldet. Laut Robert-Koch-Institut ging folgerichtig auch die Zahl der Komplikationen und Krankenhauseinweisungen stark zurück. Eine hohe Impfquote führt laut RKI zur sogenannten &bdquo;Herdenimmunität“, die auch jene schützt, die selbst nicht geimpft werden können: Säuglinge, Schwangere oder Patienten mit Immunschwäche.

Im Kreis Lippe ist die dafür als Richtwert angegebene Impfquote von 80 Prozent gegeben: Laut der zur Schuleingangsuntersuchung für den Jahrgang 2025/26 übermittelten Zahlen sind 81,8 Prozent der Kinder geimpft (23/24: 79,8 %). Ein weiterer Prozentsatz hat die Erkrankung bis zur Einschulung zudem bereits durchgemacht.

Kein Ermessensspielraum? Laut Pressesprecher Patrick Bockwinkel gab es in diesem Jahr bislang 138 Fälle an Schulen im Kreis Lippe, was dem Trend der letzten Jahre entspreche. Laut Bockwinkel sei es jeweils &bdquo;in unterschiedlichem Umfang zu einem Betretungsverbot“ nach Paragraf 34 des Infektionsschutzgesetzes gekommen. &bdquo;Welche Orte und Schulen genau betroffen waren, können wir aufgrund unserer Verschwiegenheitsverpflichtung nicht beantworten.“ Rückfragen von Eltern beantworte das Gesundheitsamt individuell.

Ausnahmen vom 16-tägigen Schulausschluss können laut Bockwinkel vom örtlichen Ordnungsamt im Einvernehmen mit dem Gesundheitsamt geprüft werden. Kann die Behörde also abwägen, wie es sich die Dörentruper Eltern gewünscht hätten? Bockwinkel verneint, von einem Ermessensspielraum könne keine Rede sein. Eine Ausnahme sei lediglich dann möglich, wenn bei einem Kind nur die zweite Impfung gegen Windpocken noch fehle und direkt nachgeholt werde.

Eine Sanktionierung? Bettina Frevert hat inzwischen ein &bdquo;individuelles“ Antwortschreiben vom Gesundheitsamt erhalten. &bdquo;Die Maßnahme“, schreibt Tirza Peuke, Leiterin Gesundheitsverwaltung, &bdquo;ist verhältnismäßig durch den Zweck des Gesetzes, nämlich die Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen, in diesem Fall der Windpocken. Ein anderes, milderes Mittel zur Zweckerreichung als das Betreuungsverbot hat der Gesetzgeber nicht angeführt.“

Aus Sicht von Frevert wirkt die Maßnahme eher &bdquo;wie eine Sanktionierung unserer individuellen Impfentscheidung als ein verhältnismäßiger Schutz der Allgemeinheit“. Sie bleibt dabei: &bdquo;Von den 300 Kindern an unserer Grundschule kann vielleicht eines, theoretisch, nicht geimpft werden, oder eine Frau ist nicht immunisiert und schwanger. Wäre es da nicht sinnvoller, dass diese Personen auf Wunsch zum Schutz zu Hause bleiben?“ Sie fühlt sich ungut an die Corona-Zeit erinnert, als die Entscheidung gegen eine Impfung ebenfalls derart harte Konsequenzen bedeutet hatte, dass von einer &bdquo;freien“ Wahl keine Rede mehr habe sein können. Sie selbst, betont sie, sei gegen Corona immunisiert, nicht per se eine Impfgegnerin.

Ihr Kinderarzt habe sie damals darüber aufgeklärt, dass ihr Kind bei einer Infektion nicht in die Schule werde gehen können - nicht aber, dass ein Auftreten allein ohne eigene Erkrankung zum Ausschluss führen würde. Erst jetzt als Betroffene hätte sie von mehreren Fällen dieser Art gehört: Ein ungeimpfter Jugendlicher sei in Lemgo innerhalb eines Schuljahres zwei Monate vom Unterricht ausgeschlossen worden. Überdenkt sie nun ihre Haltung, wie ihr im Brief vom Gesundheitsamt nahegelegt wird? &bdquo;Nein“, sagt Frevert. Sie überlegten derzeit eher, gegen die Maßnahme Klage einzureichen.

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