Interview zum runden Geburtstag: „Der Bürgerbus hat Arbeitsplätze gesichert“

Kalletal. Nach 30 Jahren und 173.000 Fahrgästen hat der Kalletaler Bürgerbusverein zum runden Geburtstag viel Lob bekommen. Im Interview blickt der Vorsitzende Reinhold Rieger zurück auf die Anfänge – und beschreibt, wieso die Ehrenamtler am Steuer des Kleinbusses dabei geholfen haben, dass heute wieder mehr &bdquo;echte" Linienbusse in Kalletal unterwegs sind.

Bei der ersten Bürgerbusfahrt 1989 stieg nur ein Fahrgast zu. Wie groß war die Enttäuschung damals?

Reinhold Rieger : Groß, weil wir intensive Werbung gemacht hatten und es im Vorfeld allerhand Kritik daran gegeben hatte, dass der Linienverkehr ausgedünnt wurde. Man hatte gemerkt, dass die Busse nicht kostendeckend fuhren und das Defizit immer höher wurde. Daraufhin sollte das ganze Netz unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten neu organisiert werden. Die Folge war die Erkenntnis, dass im ländlichen Bereich kaum noch eine Buslinie wirtschaftlich war...

Was bedeutete das für Kalletal?

Rieger: Der Busverkehr beschränkte sich fortan mehr oder weniger auf die Hauptstrecke von Rinteln nach Lemgo. Alles, was abseits der Route lag, hatte keine Verbindung mehr. Einige Menschen sahen keine Chance mehr, aus den Ortsteilen nach Hohenhausen und eventuell weiter in die umliegenden Städte zu kommen.

Wie kam es dann zur Gründung des Vereins?

Rieger: Die BVO (Busverkehr Ostwestfalen) machte der Gemeinde das Angebot, die anderen Linien weiterzubetreiben, wenn die Gemeinde das Defizit tragen würde. Bei uns in der Verwaltung setzte die Überlegung ein, das Geld sinnvoller einzusetzen und etwas anderes damit zu machen. Da kam Volker Aust ins Spiel. ..

... Mr. Bürgerbus.

Rieger: Genau. Er war Ratsmitglied und machte bei uns die Idee des Bürgerbusses publik. Weil er selbst schon immer guter Nutzer des Personennahverkehrs war, lag ihm das Thema besonders am Herzen. Er sagte, dass es anderswo interessante Ideen gäbe. Etwa in Holland oder in Kirchhundem. Dorthin sind wir damals mit Vertretern des Rats auch gefahren, um uns zu orientieren, ob das was für uns wäre.

Indem sie das System übernahmen, waren Sie Vorreiter.

Rieger: Richtig. Bundesweit gab es vor uns sechs Bürgerbusse. Wir waren der siebte. Volker Aust konnte seine Begeisterung gut transportieren. Uns kam zu Hilfe, dass Bund und Land einen Modellversuch starten wollten und wir mitmachen konnten. Wir bekamen ein gebrauchtes Fahrzeug gestellt und die Zusage, dass die Betriebskosten für zwei Jahre übernommen wurden.

Und die Fahrer?

Rieger: Die sind und waren bei uns wie bei allen anderen ehrenamtlich unterwegs. Trotzdem war die Politik in Teilen skeptisch, weil die Sache ja nun auch Geld kostete. Es haben nicht alle sofort gejubelt. Es gab auch eine Fraktion die dagegen gestimmt hat, nämlich die Grünen. Die sagten damals, dass Arbeitsplätze der Busfahrer verloren gehen. Letztlich hat sich die Sache ad absurdum geführt – es sind nämlich am Ende mehr Arbeitsplätze entstanden.

Wie das?

Rieger: Weil wir als Zuträger zu den großen Linien dienten. Die große Linie war durch den Bürgerbus besser ausgenutzt als vorher. Das führte auch dazu, dass einzelne Abschnitte, die wir als Bürgerbus befahren sind, inzwischen wieder gewerbsmäßig per Bus befahren werden. Das war vor drei Jahren, als der &bdquo;Kleine Kalle" installiert wurde. Das war schon ein Einschnitt für uns. Wir haben uns aus dem gesamten westlichen Kalletal zurückgezogen, das wir vorher befahren hatten. Das waren unsere lukrativsten Strecken.

War das für Sie ein Problem?

Rieger: Das brachte bei uns die Fahrgastzahlen durcheinander, sie gingen nämlich hinunter. Die Auslastung bei Bürgerbussen sollte zwischen 33 und 66 Prozent sein. Bei maximal acht Fahrgästen, die wir befördern dürfen, sind es zwischen zweieinhalb und fünfeinhalb Fahrgästen. Wenn man diese Zahl vielfach überschreitet, kommt man an die Grenze der acht Personen, ab der sich wieder ein großer Bus rechnet. Wenn man als Bürgerbus zu erfolgreich ist, macht man sich sozusagen das Geschäft kaputt. Aber ich versuche unseren Fahrern immer klarzumachen, dass es auch ihr Erfolg war, dass es den &bdquo;Kleinen Kalle" heute gibt.

Sie haben das ÖPNV-System stabilisiert?

Rieger: Richtig. Gerade in den Ferien, wenn keine Schulbusse fahren, hätte es in vielen Bereichen gar kein Busangebot gegeben. Im Übrigen standen wir Pate für andere Bürgerbus-Systeme in anderen Kommunen. In NRW gibt es inzwischen 137 Bürgerbus-Vereine.

Und die Finanzen?

Rieger: Nach der zweijährigen Startphase musste sich die Gemeinde verpflichten, alles das zu übernehmen, was nicht durch Einnahmen gedeckt ist. Und es sind nie alle Kosten durch Einnahmen gedeckt. Die Gemeinde trägt das Defizit der Betriebskosten bis heute. Es sind im Schnitt bei 6000 Fahrgästen etwa 5250 Euro im Jahr.

Das ist übersichtlich. Wenn man Kritik anbringen wollte, könnte man aber einwenden, dass sich der Aufwand doch kaum lohnt. Sie haben wenige Fahrgäste, und wenn Sie die Dörfer abklappern, machen Sie ein absolutes Minderheitenprogramm.

Rieger: Genauso ist es. Wer kein Auto auf dem Land hat, ist auf uns angewiesen. Und weitere Zielgruppen sind Flüchtlinge und Kinder aus der Offenen Ganztagsschule, die mit uns nach Hause fahren, weil kein Schulbus mehr unterwegs ist.

Es ist zurzeit viel die Rede von der Verkehrswende. Wo sehen Sie da Ihren Platz?

Rieger: Die Kette muss sicherlich ausgebaut werden. Aber auch danach werden wir einen Platz haben, weil wir ein Stück soziale Komponente sind, insbesondere für ältere Leute. Achim Oberwöhrmeier, Geschäftsführer der Kommunalen Verkehrsgesellschaft Lippe, hat bei unserer Geburtstagsveranstaltung über das autonome Fahren gesprochen und gesagt, dass ein fahrerloser Bürgerbus kein Bürgerbus mehr wäre. Wir leben von unseren derzeit 28 Fahrern, die persönliche Verbindungen zu den Menschen haben.

Wie sieht der ÖPNV der Zukunft aus?

Rieger: Ich glaube, dass viele Linien schneller werden müssen. Das Problem ist, dass man durch die Streckenführung durch möglichst viele Ortsteile auch möglichst viele Menschen erreichen will. Das wird dann aber für denjenigen unattraktiv, der schnell von A nach B will. Da braucht man Konzepte, und die Technik wird sicherlich helfen. Der &bdquo;Kleine Kalle" zum Beispiel fährt heute schon manche Windungen nur, wenn sich Fahrgäste angemeldet haben. Und wir müssen uns auch fragen, ob das nicht für uns etwas wäre. Bislang fehlen uns die technischen Voraussetzungen.

Welche Wünsche haben Sie zum 30-Jährigen?

Rieger: Die Bürgerbusse müssen immer aufwendiger ausgestattet sein, auch wegen des Themas Barrierefreiheit. Damit werden die Busse immer schwerer. Alle sind schwerer als 3,5 Tonnen schwer. Irgendwann werden alle unsere Fahrer keine alten Führerscheine der alten Klasse 3 mehr haben, die bislang bis 7,5 Tonnen fahren dürfen. Und dann haben wir ein Problem. Das gilt im Übrigen auch für einen Bus mit Elektroantrieb – der ist leider ebenfalls zu schwer...

Persönlich Reinhold Rieger ist 67 Jahre alt und hat 2015 den Vorsitz des Kalletaler Bürgerbusvereins von Volker Aust übernommen. Rieger baute den Verein mit auf und begleitete das Bürgerbus-Projekt von Anfang an – zuerst noch als Fachbereichsleiter der Gemeinde Kalletal. 1981 hatte er dort als Sozialamtsleiter begonnen. 2015 ging er in den Ruhestand. Rieger stammt aus Lingen und hat eine Ausbildung als Verwaltungsfachmann. Dort arbeitete er auch bis 1981 als stellvertretender Abteilungsleiter. Er wohnt in Lemgo und ist verheiratet.

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