Hilfe, ich habe einen Vogel!

Detmold. Der große Geländewagen gibt noch einmal extra Gas, immerhin braust er nicht mit den dicken Reifen über das kleine Wesen, das auf dem heißen Asphalt liegt. Ein Spatz reckt den Kopf in die Höhe - und das rettet ihm zumindest für den Moment das Leben. Es ist die Frage, ob das Tier verletzt ist oder ob es besser ist, es auf einer Wiese in der Nähe abzusetzen.

Weil dort eine Katze herumstreift und ein Fuß kaum Reflex zeigt, fällt die Entscheidung: LZ-Redakteurin Astrid Sewing nimmt den Vogel mit. Und das hat Konsequenzen. Das Rad wird geschoben. Eingewickelt in ein T-Shirt wird der Spatz bis zur Redaktion getragen und dort in einen Karton verfrachtet. Dunkelheit hilft Vögeln, sich zu erholen, wenn sie einen Schock haben. Und was dann? Laienwissen kann für das Tier lebensgefährlich sein, darum hat sie einen Experten um Rat gefragt.

Marc-Philip Eckstein kennt sich aus. Der Leiter des Vogelparks Heiligenkirchen hat den kleinen Spatz aus Detmold für die LZ durchgecheckt. &bdquo;Einen Vogel lieber einmal mehr auf dem Boden sitzen lassen, als einmal zu viel mitnehmen. Das kann sonst schnell falsche Tierliebe sein", erklärt Eckstein seinen Grundsatz. Bei &bdquo;Jimmy", wie die Redaktionskollegen den Spatz getauft haben, sah die Sache anders aus, denn er schwebte in unmittelbarer Gefahr. Dem Vogel geht es inzwischen soweit gut.

"Jimmy" ist ein sogenannter Ästling, was bedeutet, dass er in seinem Entwicklungsstadium aus dem Nest herausfliegt und von den Eltern gefüttert wird. Und die kümmern sich auch um ihren Nachwuchs, wenn der sich mal verflogen hat. Die Jungtiere geben Laut, und die Eltern bringen ihnen Futter.

Vogelnachwuchs, der am Boden hockt, sei also in der Regel nicht so hilflos wie es Laien auf den ersten Blick erscheint. Er sollte an Ort und Stelle beobachtet werden. &bdquo;Nicht jeder Vogel, der aus dem Nest fällt, ist ein Unfall", weiß Eckstein. Im Zweifel können die Finder beim Tierarzt um Rat fragen oder die Fachleute in der Adlerwarte Berlebeck kontaktieren. "Wir nehmen alles an Vögeln auf", sagt dessen Leiter Klaus Hansen. Der Bedarf ist da: Die Adlerwarte nimmt im Jahr mehr als 400 Vögel auf und ist zu den Öffnungszeiten telefonisch für Vogelnotfälle erreichbar. Hansen betont dabei sofort, dass die Tiere nur in Notfällen mitgenommen werden sollten.

Bei der Einschätzung eines "Findelkindes" ist es wichtig, die Entwicklungsphase zu erkennen. Zuerst werden Vogelkinder Nestlinge genannt. Sie sind nackt und auf dem Boden tatsächlich hilflos. Etwas ältere Jungvögel sind dann schon gefiedert und werden Ästlinge genannt. &bdquo;Sie hüpfen auf den Ästen rum und werden noch von den Eltern versorgt", beschreibt Eckstein. So wie "Jimmy", auch zu erkennen an seinem noch nicht ganz durchgefärbten Gefieder. &bdquo;Junge Spatzen sind noch recht grau", sagt Eckstein über das Federkleid. Daran schließt sich die Bettelflugphase an, in welcher die Vogelkinder von den Eltern entwöhnt werden und schon fast aussehen wie erwachsene Vögel.

Wie hilft man? Was aber tun, wenn ein Vogel tatsächlich zu schwach oder verletzt ist? Dann sollte das Tier so wie "Jimmy" am besten in einem abgedeckten, luftdurchlässigen Karton transportiert werden. Um den Vogel zuhause wieder aufzupäppeln, müsse das Füttern der Eltern imitiert werden: &bdquo;Aktiv mit Zahnstocher und Pinzette". Am besten seien Insekten oder Nahrung aus der Tierhandlung. Regenwürmer aus dem Garten seien hingegen keine gute Idee. &bdquo;Da können Lungenwürmer drin sein. Die befallen die Vögel und dann kriegen sie ganz schwer Luft", beschreibt Eckstein die Parasiten.

Wer sich um ein solches Jungtier kümmert, braucht Geduld, Ideen und das richtige Futter. Spatzen sind Körnerfresser, aber die Jungtiere können erst einmal nichts damit anfangen. Auch deshalb ist es ratsam, einen Fachmann oder Tierarzt zurate zu ziehen. Eckstein gibt Pellets mit, die in Wasser eingeweicht werden müssen. Es sind Proteine und Vitamine. &bdquo;Jimmy" allerdings hat sehr eigene Vorstellungen von dem, was er überhaupt fressen will.

Er sperrt den Schnabel nicht auf, ist erst einmal sehr ruhig. Im Karton hat er eine Rückzugsmöglichkeit im Nistmaterial und eine Unterlage. Eckstein sieht, dass der Kot weiß ist, ein Zeichen, dass das Tier Harn absetzt. Fehlt der dunkle Teil, dann müsste der Vogel fressen. &bdquo;Jimmy" hat da wenig Wahlmöglichkeit, auch wenn er die Pellets wenig hilfreich findet. Bleibt nur, ihn auf den Geschmack zu bringen. Bei einem Ara-Küken ist es einfacher, es zu füttern – die Luke ist um einiges größer. Der Futterbrei lässt sich mit einer Spritze vorsichtig in den richtigen Kanal spritzen, man fühlt, wie sich der Kropf füllt.

Bei &bdquo;Jimmy" ist das filigraner, reinspritzen geht gar nicht, &bdquo;Jimmy" könnte ersticken. Er nuckelt eher an der Spritze und schluckt, wenn man ihm eine winzige Menge tagsüber jede Stunde quasi sanft in den Schnabel streicht. Nach der ersten Nacht läuft es etwas besser, ab und an kippt er mit einer Drehbewegung des Kopfes weg. Die Ruhe und die körperliche Nähe genießt er, er schläft viel, hüpft kaum, sagt nix – auch als er draußen ist und Dutzende seiner Kollegen den Morgen begrüßen.

Anfassen ist bei Vögeln übrigens nicht ganz so schlimm wie bei Säugetieren, stellt Eckstein fest. Säugetiere nehmen bei Berührung den Geruch von Menschen an, Rehkitze würden dann oft verstoßen. &bdquo;Bei Vögeln ist das anders, da sie einen schlechten Geruchssinn haben". Viel schlimmer sei es, den Vogel aus der Natur zu holen. &bdquo;Dieser Spatz wird jetzt nicht mehr von seinen Eltern versorgt und braucht jetzt den Menschen", weiß Eckstein. Tiere einfach aus der Natur zu sich zu nehmen, ist übrigens verboten. Das besagt das Bundesnaturschutzgesetz. Ein Wildtier darf temporär nur dann mitgenommen werden, wenn es verletzt, krank oder verwaist, also tatsächlich hilflos, ist.

Wie geht es dem Spatz? Am Donnerstag macht &bdquo;Jimmy" einen deutlich muntereren Eindruck. Die Drehbewegung ist weg. Im Büro piept es im Karton, zwischendurch wird gefüttert. Und nein: &bdquo;Jimmy" ist kein Haustier und wird auch keins werden, wenn er es denn schafft. Er gehört nach draußen zu Seinesgleichen. Er hat auch durchaus eigene Vorstellungen von Dankbarkeit – der kleine Schnabel kneift auch schon mal zu. Gut so! Wer dafür Kraft hat, der setzt sich auch durch. Bis das Auswildern klappt, muss er noch zulegen. Zum Glück ist das ein überschaubarer Zeitraum.

Wenn er wieder anfängt, selbst mit den Flügeln zu schlagen, ist es langsam Zeit für die Rückkehr in die Natur. &bdquo;Sobald der Vogel wieder selbstständig frisst, kann er einfach im eigenen Garten rausgelassen werden", sagt Friedrich-Wilhelm Eckstein, ehemaliger Leiter des Vogelparks. &bdquo;Der Spatz kommt ohne Folgen wieder in der Natur klar". Schwieriger werde es bei Dohlen oder Raben: &bdquo;Die werden extrem zahm und haben dann vor Menschen keine Angst mehr. Das ist nicht gut", weiß er.

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