Kreis Lippe. Welch ein Trauma: Ein kleiner Junge, mit anderen Kindern von einer wildfremden „Tante" in einen Zug gezerrt, verbringt Wochen des Heimwehs und der Ungewissheit in einer vollkommen unbekannten Umgebung, in der er sich erholen soll. Was Dietmar Sommer vor über 50 Jahren erlebt hat, teilen Tausende von Verschickungskindern. Der SPD-Landtagsabgeordnete Dr. Dennis Maelzer geht dem Phänomen auf den Grund und hat eine kleine Anfrage im Landtag dazu gestellt.
Begonnen hat alles mit einem Brief: „Eine Detmolderin hat mich angeschrieben und auf die Verschickungskinder aufmerksam gemacht", berichtet Maelzer. In anderen Bundesländern wie Schleswig-Holstein habe es bereits eine parteiübergreifende Resolution gegeben, in der eine Aufarbeitung dieser dunklen Geschichte der Pädagogik und die Zusammenstellung der Fakten gefordert werde.
Es gehe um übelste Missstände in Kindererholungsheimen in den Fünfzigern und Sechzigern. „Da muss es systematische Erniedrigungen und körperliche Strafen beispielsweise bei Bettnässern gegeben haben", berichtet der Politiker. Er sei geschockt gewesen, als er sich näher damit befasst habe. „Mir waren die Dimensionen überhaupt nicht bewusst. Es hat insgesamt 350.000 Plätze in Kinderheimen gegeben, und allein im Jahr 1962 sind 200.000 Kinder aus Nordrhein-Westfalen verschickt worden. Da kann man nur hoffen, dass nicht alle solch traumatische Erlebnisse hatten."
Dietmar Sommer arbeitet in der SPD-Geschäftsstelle in Detmold und bekam die Diskussion mit. Der 63-Jährige ist einer von denen, die unter jener menschenverachtenden Pädagogik gelitten haben. Sie verfolgt ihn bis heute.
"Wir kriegten als erstes Tabletten"
Er war etwa sieben Jahre alt, erinnert er sich. „Wir sind zuhause im Dunkeln aufgebrochen, und ich wurde am Bahnhof in Lage einer fremden Frau übergeben, die mit uns fuhr." Im Dunkeln kamen sie an, im „Haus Sonnenburg" im Schwarzwald. Ein von Nonnen geführtes Haus, dessen Name der Erscheinung spottete: „Es war damals schon baufällig, die Balkone waren einsturzgefährdet." Er sei in einen riesigen Saal geführt worden. „Wir kriegten als erstes Tabletten. Wer Schwierigkeiten hatte, die zu schlucken, dem zog eine Nonne den Kopf in den Nacken, und dann hieß es: Rein damit." Bis heute, sagt Dietmar Sommer mit einem bitteren Lächeln, habe er keinerlei Schwierigkeiten, Tabletten zu nehmen. Das Ganze fand in der Schulzeit statt, doch Unterricht bekamen die Kinder nicht.
Stattdessen gab es Waldspaziergänge und Spiele im Wald. Bis sich der kleine Dietmar den Fuß verknackste. „Da musste ich auch tagsüber im Schlafsaal auf meinem Bett sitzen, niemand war in Hörweite, und wenn ich zur Toilette musste, bin ich hingekrochen."
Denn zu den Bettnässern hätte er um nichts in der Welt gehören wollen: Die mussten einen Socken an ihr Bett binden und wurden nachts aus dem Schlaf gerissen, damit sie zum Klo gingen – mit oder ohne Harndrang. Außer der Reihe zu müssen, war nicht erlaubt.
Dietmar Sommer erinnert sich auch noch an den großen Tisch im Speisesaal, an dem der Junge ihm gegenüber sich übergeben hatte. „Drei Nonnen haben ihn gezwungen, das Erbrochene zu essen." Schlimm war auch die Trennung von Zuhause: Ein älterer Freund habe für ihn eine Karte an Papa und Mama schicken wollen, um vom verknacksten Fuß zu berichten. „Die Karte wurde abgefangen, meine Eltern haben sie niemals bekommen." Das Heimweh sei unerträglich gewesen, auch für die kleineren Kinder.
Natürlich habe er seinen Eltern von den Torturen erzählen wollen, als er wieder zuhause war. Durchgedrungen sei er damit nicht. Viele Jahre habe er das Erlebte in sich getragen, am Trauma gelitten. Bis er vor gut zwölf Jahren Depressionen bekommen und sich in Therapie begeben habe. „Erst da konnte ich darüber sprechen."

Erschütternde Berichte aus ganz Deutschland
Die Berliner Autorin Anja Röhl befasst sich schon seit Jahren mit dem Problem der Verschickungsheime. Geschichten, die sich verblüffend ähneln. Körperliche Züchtigung, gezwungen werden, Erbrochenes zu essen und Deprivation, finden sich dort immer wieder. Sie selbst hat auch solch eine schreckliche Geschichte erlebt und ist dem nachgegangen.
Nach einem Artikel, der 2009 in der „Jungen Welt" erschienen ist, hätten sich nach und nach immer mehr Betroffene bei ihr gemeldet. „Als es 150 waren, habe ich mich aufgefordert gefühlt, was zu unternehmen."
Anja Röhl tauchte tiefer ein und kann sich heute einiges besser erklären: Das damalige Standardwerk über Kinderheilkunde habe der NS-Arzt Hans Kleinschmidt (1885-1977) verfasst. Es sei mutmaßlich an 1200 in einem Verzeichnis aufgeführte Erholungsheime für Kinder geschickt worden. „Auf Seite 25 bis 93 finden sich praktische Hinweise, dort sind 18 Formen der Bestrafung aufgeführt", berichtet die Autorin, auch der Umgang mit den Bettnässern sei dort beschrieben, ebenso der Zwang, Erbrochenes zu essen.
Autorin spricht von NS-Pädagogik
Die um die Jahrhundertwende angewandte schwarze Pädagogik mit einer schwächelnden Rollenzuweisung für die Mutter sei dies nicht, sondern ganz klar NS-Pädagogik. „Hier geht es zusätzlich darum, das Kind gezielt von der Mutter zu entfremden. Danach soll es beispielsweise 24 Stunden nach der Geburt bewusst weggelegt werden."
Ende 2019 griff Report Mainz das Thema auf, und plötzlich gab es eine Flut von Rückmeldungen, in kurzem Zeitraum über 3000. „Und egal, in welcher Lokalzeitung Journalisten darüber berichten, sie bekommen sofort unzählige Rückmeldungen von Menschen mit ähnlichen Schicksalen."
Unter anderem ist immer wieder davon die Rede, dass die Kinder Medikamente mit unklarer Indikation schlucken mussten, wie es auch der Lipper Dietmar Sommer erlebt hat.
Nicht alle Heime seien schlimm gewesen, räumt Anja Röhl ein, es gab offensichtlich auch positive Erfahrungen, doch eher selten. Sie schätzt die Zahl der Geschädigten auf zwölf Millionen zwischen 1950 und 1980. Auf ihrer Internetseite finden sich auch Berichte von Heimen auf Norderney. Das Haus Detmold des Kreises Lippe wird hier nicht genannt.
Aber es muss in anderen Häusern ähnliche Beispiele gegeben haben, sagt Paul Rass. Er war Erzieher im Haus Detmold, das seit den 50-er Jahren Kinderkurheim des Kreises Lippe war. „Ich weiß, dass es einige sehr strenge Heime dort gegeben hat", erzählt der Rentner, der auch heute noch Wattführungen für Lipper auf Norderney anbietet. „Bei uns war es sehr locker, aber ich weiß, dass uns mal eine Mutter angefleht hat, dass wir ihren Jungen aufnehmen, weil der so unglücklich in dem anderen Heim war." Namen und Details will Rass nicht nennen.
Kinder zum Essen gezwungen? „Das gab es bei uns nicht. Ich weiß noch, dass bei uns ein Junge am letzten Tag unglaublich viele Butterbrote geschmiert hat. Da hab ich ihn gefragt ,Hast Du denn so einen großen Hunger?’ – ,Nein’, hat er gemeint, ,aber meine Familie soll sich endlich mal wieder sattessen’."
Unter www.verschickungsheime.de hat Röhl ein Portal eingerichtet, auf dem Betroffene zu Wort kommen.
"Aufklärung tut not"
Ein Kommentar von LZ-Redakteurin Marianne Schwarzer.
Es ist anscheinend ein Trauma, das Tausende von Deutschen mit sich herumtragen: Die Berichte über menschenverachtende Erziehungsmethoden in Kindererholungsheimen vor allem in den 50er bis 70er Jahren häufen sich, seit Report Mainz das Thema aufgegriffen hat.
Was vor mehr als einem halben Jahrhundert geschehen ist, verfolgt auch heute Menschen in der Mitte der Gesellschaft, und einmal angestoßen, kommt die Erinnerung bei vielen wieder hoch. So hat es auch der Landtagsabgeordnete Dennis Maelzer wahrgenommen, und er nimmt sich zu Recht der Sache an.
Das ist nicht nur Symbolpolitik, die Kleine Anfrage in Düsseldorf ist ein erster Schritt, um all das unter dem Teppich hervorzuholen, was dort anscheinend schon lange liegt – ob bewusst oder unbewusst.
„Das war halt die Zeit", mag man achselzuckend denken. Natürlich hat sich die Pädagogik weiterentwickelt. Aber die Schwelle zur echten Grausamkeit haben damals Heimerzieher offenbar tausendfach und systematisch überschritten.
Es ist höchste Zeit, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung sich der Sache stellt. Wenn auch nur ein Bruchteil von dem stimmt, was Zeitzeugen berichten, dann betreffen diese Grausamkeiten nicht nur die damaligen Erziehungskräfte, sondern auch das Gesundheitssystem, hinter dem auch die öffentliche Hand stand.
Vorbehaltlose Aufklärung ist hier das Mindeste, was die Opfer verdienen.