Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Verschickungskinder: Gute und schlimme Zeiten auf Norderney

Marianne Schwarzer

  • 0
Es hat drei lippische Erholungsheime auf Nordseeinseln gegeben: Auf Norderney, Langeood und in Witdün auf Amrum, wo diese Aufnahme entstanden ist. Sie entstammt einem Erinnerungsalbum, dass ein Unbekannter für die Verwaltung des Heimes auf Amrum gemacht hat. So ähnlich muss der Alltag in all den Kindererholungsheimen der 50-er und 60-er Jahre ausgesehen haben.  - © Kreis Lippe
Es hat drei lippische Erholungsheime auf Nordseeinseln gegeben: Auf Norderney, Langeood und in Witdün auf Amrum, wo diese Aufnahme entstanden ist. Sie entstammt einem Erinnerungsalbum, dass ein Unbekannter für die Verwaltung des Heimes auf Amrum gemacht hat. So ähnlich muss der Alltag in all den Kindererholungsheimen der 50-er und 60-er Jahre ausgesehen haben.  (© Kreis Lippe)

Kreis Lippe. Für die einen war es eine wundervolle Zeit, für die anderen ein Alptraum: Auf die Berichterstattung der LZ über das Schicksal der Verschickungskinder und die kleine Anfrage des SPD-Landtagsabgeordneten Dennis Maelzer haben sich diverse Betroffene gemeldet. Darunter auch einige, die in den 50er- und 60er-Jahren im Haus Detmold auf Norderney gewesen sind. Die Erfahrungen sind gemischt.

Die meisten der Leser, die sich mit ihren Erfahrungsberichten an die LZ-Redaktion gewandt haben, wollen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Eine Detmolderin war 1958 nach Norderney verschickt worden, weil sie zu dünn war. Sie habe ihren Teller immer leeren müssen, Erbrochenes habe die Sechsjährige selbst wegwischen müssen. Dann sei sie an Röteln erkrankt und man habe sie eine Woche in Quarantäne sich selbst überlassen. „Mich quälte schreckliches Heimweh und ich schrieb immer wieder nach Hause ,Bitte holt mich – ich bin krank‘." Doch die Briefe seien zerrissen worden.

Diese Aufnahme entstand in den 50er Jahren auf Amrum im Erholungsheim des damaligen Kreises Detmold in Wittdün.  - © Kreis Lippe
Diese Aufnahme entstand in den 50er Jahren auf Amrum im Erholungsheim des damaligen Kreises Detmold in Wittdün.  (© Kreis Lippe)

Essenszwang mit Spätfolgen

Sie sei als Lehrerin sehr oft mit Kindern unterschiedlichen Alters auf Langeoog gewesen und habe sich immer besonders um Kinder mit Heimweh gekümmert. Doch ob es so gut sei, das alles aus der Vergangenheit aufzuarbeiten? – „Es bringt nichts. Es ist Unrecht geschehen und wir müssen alle dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert."

Ein Lemgoer war 1961 im Haus Detmold. Dass es dort sehr locker zugegangen sei, wie der ehemalige Erzieher Pauli gegenüber der LZ berichtet hatte, sei „ein völliges Zerrbild, dass ich nicht so stehen lassen kann", schreibt er. Folgen des Essenszwangs für ihn: „Auch heute habe ich Schwierigkeiten, wenn mir ein voller Teller serviert wird, dann vergeht mir blitzschnell der Appetit." Seine Eltern seien geschockt gewesen, weil er nach sechs Wochen „bleicher und ausgezehrter" zurückgekommen sei, und hätten sich beim Sozialamt des Kreises beschwert. „Dort wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten ein viel zu verwöhntes Kind."

Willkürliche Bestrafungen

Ähnliches hat auch ein weiterer Detmolder auf Norderney erlebt: Man habe mit den Kindern viel unternommen, etwa am Strand. „Aber es gab eben auch die andere Seite mit Druck, Reglementierungen und Verboten, Demütigungen, wie in Ihrem Artikel gut beschrieben." Auch bei ihm habe diese Zeit nachhaltig Spuren hinterlassen.

Einer Leserin aus Aerzen ist beim Lesen des LZ-Artikels „fast das Essen im Hals stecken geblieben". Haus Detmold soll also so schön gewesen sein? Sie sei mit fünfeinhalb Jahren mit ihrer drei Jahre älteren Schwester wegen Dermatitis im Sommer 1961 dorthin geschickt worden. Stressbedingt seien ihre Hautprobleme erst recht ausgebrochen: „Es wurde so schlimm, dass die Tanten mir abends die Arme an Kleiderbügel einwickelten, damit ich mich nicht kratzte... Ich habe meine Schwester angefleht, die Verbände abzunehmen, was sie manchmal auch tat, und dafür wurde sie natürlich bestraft, was wiederum mich in Stress versetzte." Furchtbar habe sie gefunden, dass sie ihren Eltern nicht mitteilen konnte, wie schrecklich es war: „...Willkürliche Bestrafungen, Toilettenverbot nach 19 Uhr, Kinder, die in ihrem Kot oder Urin liegen mussten und mehr."

Eine Lemgoerin mit ähnlichen Erfahrungen schreibt: „Als Erwachsene ist mir klar geworden, dass die Erziehungsmethoden aus der Nazi-Zeit stammten. Es gab Erniedrigungen, Diskriminierungen, Beschimpfungen und vieles mehr..."

Glück, im Haus Detmold zu sein

Die LZ erreichten noch diverse andere Briefe von Menschen, die anderswo traumatische Erfahrungen in der Kinderkur gemacht haben. Allerdings gibt es auch die andere Seite: „ Mein Ehemann hatte als Kind das Glück, im Haus Detmold auf Norderney zu sein", schreibt eine Frau, die in Bad Rippoldsau gewesen war. „Seine Erinnerungen sind viel positiver als meine".

Ein Blomberger war 1951 als Kurkind in Wyk auf Föhr: Er habe dort sechs „ereignisreiche und auch lehrreiche Wochen in dem Heim" verlebt. „Neben einer guten abwechslungsreichen Versorgung lernten wir viel über Muscheln, Seesterne und die sonstigen Bewohner des Meeres sowie das Meeresgeschehen. Abends wurde gesungen oder uns wurden Geschichten vorgelesen. Meine Leselust ist damals ganz entscheidend positiv beeinflusst worden." Seine Frau und vier ihrer Schwestern seien in den 50er-Jahren auf Langeoog gewesen. „Bis auf quälendes Heimweh in einem Fall erinnern sie sich an eine erholsame Zeit. Die Älteste, die ich jetzt darauf ansprach, äußerte, dass beim Abschied von der Familie die Tränen flossen, aber auch beim Abschied von der Insel. Die Versorgung sei gut gewesen, das Essen reichhaltig und vielseitiger, als es die damals zu Hause vorhandenen Mittel ermöglichten. Das Heimwehkind hat eine gute Erinnerung an den Trost durch eine der Betreuerinnen."

Sein Fazit: „Es war nicht alles so schlimm und düster, wie es heute – speziell von Autoren und Politikern ohne eigenes Erleben und ohne Entbehrungen aufgewachsen – dargestellt wird. Es standen zu dieser Zeit nur begrenzte Mittel zur Verfügung, und deshalb war die ,Verschickung‘ in vielen Fällen eine Hilfe für die Familien, besonders in den großen Städten."

"Schuss von Elbrinxen nicht wahrgenommen"

Und ein weiterer Leser ist per se gar nicht mit der Berichterstattung über die Verschickungskinder einverstanden: „Wie vehement Sie die Aufklärung der Missstände bei der vor über 60 Jahren (!!!) durchgeführten Kinderlandverschickung fordern, scheint es mir so, als ob Sie den ,Schuss von Elbrinxen‘ nicht entsprechend wahrgenommen haben. Diese Missstände in der Verwaltung treten jetzt zu Tage und bedürfen einer dringenderen Aufklärung, als Geschehnisse von vor über 60 Jahren!"

Kinderkurheim 1988 geschlossen

Insgesamt hat es in den 50er- und 60er-Jahren drei lippische Kindererholungsheime auf Norderney, Langeoog und Amrum gegeben. Die Aktenlage dazu ist denkbar schlecht, sagt Kreisarchivar Dr. Hansjörg Riechert. Das ehemalige Kinderheim in Wittdün auf Amrum hieß einfach „Kinderheim Detmold" und gehörte dem Landkreis Detmold. Es wurde 1957 geschlossen, wie die LZ damals berichtete. Im selben Jahr begann der Kreis, auf Norderney zusätzlich zum damals bestehenden Kindererholungsheim ein Landschulheim zu errichten. 1983 investierte der Kreis mit dem Kreisjugendwerk drei Millionen D-Mark des Landschulheimes und die Verlegung des eigentlichen Kinderkurheimes, das wie das Jugendheim auf Langeoog 1988 geschlossen wurde. Übrigens gegen Protest „ehemaliger Kurkinder", wie die LZ berichtete. Sie hätten sogar einen Brief an den damaligen Oberkreisdirektor Hilmar Lotz geschrieben. Heute betreibt der Kreis Lippe die ehemaligen Landschulheime auf Langeoog und Norderney als moderne „Inselquartiere".

Copyright © Lippische Landes-Zeitung 2025
Inhalte von lz.de sind urheberrechtlich geschützt.
Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Chefredaktion.