Fall Lügde: Erst ein Opfer finanziell entschädigt - wie kann das sein?

Lügde/ Düsseldorf. Im Missbrauchskomplex von Lügde haben insgesamt 48 Opferfamilien Anträge auf Entschädigungszahlungen bei ihren Ländern eingereicht – 32 davon in Nordrhein-Westfalen und 16 im angrenzenden Niedersachsen. Doch erst ein Opfer wird jetzt finanziell entschädigt – drei Jahre nach dem Prozessende. Wie kann das?

Der Horror liegt vier Jahre zurück , doch ganz verblassen werden die Narben wohl nie. Es ist ein heißer Sommertag Ende August 2018, als ein damals neun Jahre altes Mädchen seine gleichaltrige Freundin auf dem Campingplatz Lügde-Elbrinxen besucht. Das Kind lebt dort mit seinem Pflegevater Andreas V. Der Dauercamper wird noch in der folgenden Nacht sexuell übergriffig und fügt der Neunjährigen unaussprechliches Leid zu. Das Mädchen ist damals das erste Opfer, das sein Schweigen bricht – und zwei Monate später gemeinsam mit seiner Mutter Anzeige bei der Polizei in Bad Pyrmont stellt. Ihre Aussage ist es, die das Aufdecken des Fall Lügde in Gang setzt – und mit ihm einen beispiellosen Behördenskandal.

Am 5. September 2019 werden schließlich die Haupttäter Andreas V. (damals 56) und Mario S. (34) für sexuellen Missbrauch an 32 Kindern zu 13 und 12 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Zurück bleiben zerstörte Kinderseelen, sagt die Richterin damals.

Opfer erhält rund 223 Euro pro Monat Heute ist das Mädchen aus dem benachbarten Niedersachsen 13 Jahre alt. Nach einem langen Prozedere ist ihr laut ihres Anwalts Roman von Alvensleben eine lebenslange Opferrente von monatlich 223 Euro zugesprochen worden; das habe das Landesamt in Braunschweig kürzlich bestätigt. Mit dem Geld könne man nichts ungeschehen machen, es sei aber das Mindeste, was man vom Staat erwarten dürfte. Etwa 10.000 Euro bekommt seine Mandantin dazu seit dem Jahr 2018 rückwirkend zugesprochen. Ihre Mutter sei über das Ende des Verfahrens sehr erleichtert, sagt der Opferanwalt. Er habe sich sehr dafür eingesetzt, dass während des Opferentschädigungsverfahrens auf intensive Befragungen der Tochter verzichtet werde. &bdquo;Das wollte sie nicht noch mal durchmachen“, sagt Roman von Alvensleben.

Beim Land NRW waren nach Auskunft des Gesundheits- und Sozialministeriums insgesamt 32 Anträge auf Entschädigungszahlungen eingegangen; 16 weitere hatte der Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) wegen des Wohnorts an das Land Niedersachsen abgegeben. Einzig der Antrag der inzwischen 13-Jährigen wurde bis heute positiv entschieden. Heißt: Alle anderen Opfer warten bislang auf finanzielle Entschädigungen. &bdquo;Wir haben den Fall damals aufgebrochen, vielleicht ist sie deshalb die erste“, sagt Roman von Alvensleben. Auch drei Jahre nach Prozessende betrachtet er die Rolle der Behörden weiterhin als skandalös. &bdquo;Bis heute hat sich der Landkreis nicht dafür entschuldigt, dass er so viele Kinder im Stich gelassen hat.“

Doch wie kann es sein, dass in allen anderen Fällen noch kein Geld ausgezahlt wurde? Viele Familien hätten nicht die Kraft und Beharrlichkeit, ein so langwieriges Verfahren durchzuhalten, bevor sie das bekämen, was ihnen zustehe, vermutet der Anwalt. Allein das für Niedersachsen zuständige Landesamt in Braunschweig bearbeitet weiterhin noch 15 Verfahren.

FDP-Mann Lürbke fordert Behörden zu mehr Tempo auf In NRW hat der LWL aktuell noch 30 Anträge von Opfern und Angehörigen des Missbrauchsfall Lügde auf dem Tisch liegen, zwei meldeten sich nicht mehr zurück. Fünf stünden kurz vor der Entscheidung. &bdquo;Wir hoffen, dass die ersten im September ihre Entschädigungen erhalten“, sagt LWL-Pressereferent Markus Fischer. Warum genau einige Betroffene abspringen, weiß der LWL nicht. Genauso wenig kann Fischer konkret sagen, weshalb sich das Prozedere so lange hinzieht. &bdquo;Das sind immer ganz individuelle Geschichten, auf die es ankommt.“ Gerade bei sexuellem Missbrauch sei es schwer nachzuweisen, dass die andauernden Gesundheitsschäden – mindestens sechs Monate – auf ein Verbrechen zurückzuführen sind. &bdquo;Das ist bei psychischen Folgen immer schwer. Aber genau das verlangt das Gesetz“, sagt Fischer.

Das NRW-Ministerium verweist darauf, dass die Aufarbeitung im Interesse der Opfer &bdquo;sehr sensibel“ erfolgen müsse, um weitere psychische Schäden zu vermeiden. Es sei das &bdquo;klare Ziel“, &bdquo;allen Betroffenen, die unfassbares menschliches Leid erfahren haben“, eine Entschädigung zukommen zu lassen. Man stehe mit dem LWL im Austausch, um alle Möglichkeiten zu nutzen, eine &bdquo;Beweiserleichterung“ vorzunehmen, damit die gestellten Anträge mit der gebotenen Sorgfalt, &bdquo;zugleich jedoch so schnell wie möglich“ beschieden werden könnten.

Grüne in NRW wollen Aufklärung Der FDP-Landtagsabgeordnete Marc Lürbke sagt, dass die Entschädigung der Missbrauchsopfer nicht zur &bdquo;Geduldsprobe“ für die Betroffenen werden dürfe. &bdquo;Die zuständigen Stellen müssen den zurecht wachsenden Unmut über das schleppende Verfahren daher unbedingt zum Anlass für schnellstmögliches Tempo nehmen“, so Lürbke. Die Grünen im NRW-Landtag kündigen an, der Frage nachzugehen, warum es im Fall Lügde erst eine Entschädigung gegeben hat. Opfer müssten unmittelbar Hilfe und Entschädigungen erhalten – &bdquo;ohne große bürokratische Hürden“, so Eileen Woestmann, Sprecherin im Untersuchungsausschuss.

Auch vier Jahre nach dem sexuellen Missbrauch kann die heute 13-Jährige nur schwer durchschlafen, sagt ihr Anwalt. &bdquo;Sie lässt das Licht an und kämpft mit Konzentrationsschwierigkeiten.“ Ob die lebenslange Opferrente irgendwann wieder überprüft wird? Rechtsanwalt Roman von Alvensleben bezweifelt das. &bdquo;So etwas gibt es. Aber ich gehe davon aus, dass die Kinder von Elbrinxen in Ruhe gelassen werden.“

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