Missbrauchsfall Lügde: Verzögerte die Polizei die Verhaftung eines Täters?

Kreis Lippe. Dass fatale Behördenfehler rund um den Missbrauchsfall Lügde passiert sind, lässt sich nicht wegwischen. Nicht ohne Grund ist der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Fall Lügde im Düsseldorfer Landtag seit zweieinhalb Jahren dabei, die Vorgänge lückenlos aufzuklären. Gerade ist ein neuer Mosaikstein dazugekommen, der das Gesamtbild noch ein Stück weit unglaublicher erscheinen lässt.

Nicht nicht nur bei der Festnahme des arbeitslosen Dauercampers Andreas V. soll mit sechs zwischen Anzeige und Festnahme liegenden Wochen unnötig viel Zeit verstrichen sein, in der der damals 56-Jährige Beweismittel hätte verschwinden lassen können. Auch die Verhaftung des Mittäters Mario S. scheint sich aus irritierenden Gründen verzögert zu haben. Nach einer Recherche des Spiegels geht es um die Frage, ob der später zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilte Mario S. nicht schon drei Wochen früher hätte verhaftet werden müssen. Das Magazin beruft sich dabei auf interne Unterlagen und Vernehmungsprotokolle, die gerade den Untersuchungsausschuss in Düsseldorf beschäftigen.

Der Recherche nach soll insbesondere eine Kriminalhauptkommissarin der Kreispolizeibehörde Lippe im Mittelpunkt stehen und Hinweise auf Mario S. möglicherweise zu schnell abgetan haben. Obwohl ein Mädchen bei ihrer Aussage gegen V. den Verdacht bereits, so schreibt es der Spiegel, am 19. Dezember 2018 auf den damals 34-Jährigen lenkt, wird der Beschuldigte erst Wochen später, am 11. Januar 2019, festgenommen. CDU-Obmann und Sprecher des U-Ausschusses, Dietmar Panske bestätigt die Ungereimtheiten gegenüber der LZ: "Es hat vielleicht keine Hinweise für einen Haftbefehl gegeben, aber solche, die man hätte ableiten und denen man weiter hätte nachgehen müssen."

Besonders fatal: Auch zwischen Weihnachten und Silvester 2018 missbraucht Mario S. nachweislich noch zwei Kinder. Wie es im Urteil des Landgerichts heißt, versucht Mario S. in dieser Zeit an einem nicht näher bestimmbaren Nachmittag, zwei Kinder zum Geschlechtsverkehr miteinander zu bringen, um sich daran zu ergötzen. Er lässt später von seinem Plan ab, weil ein Mädchen sich widersetzt. Das Kind soll S. zu Beginn der polizeilichen Ermittlungen in Schutz genommen haben, heißt es im Urteil.

Auch das Mädchen, dessen Aussage laut Spiegel-Bericht den ersten Verdacht auf S. lenkt, rudert bei der Aussage gegen Mario S. wieder zurück. &bdquo;Aber ich will jetzt nichts mehr sagen, sonst darf ich da nicht mehr hin“, soll sie laut dem im Artikel zitierten Protokoll gesagt haben. Es geht vorher darum, ob sie S. ähnlich wie Andreas V. angefasst habe. Eine interne Mail der Polizei an Ermittlerinnen und Ermittler hält am selben Tag daher die &bdquo;Verdachtsmomente“ gegen Mario S. fest, heißt es weiter.

Mario S. begeht während der Ermittlungen noch weitere Missbrauchstaten Einen Tag später, am 20. Dezember 2018, soll die Polizeibeamtin mit einem Kollegen Mario S. auf den Campingplatz befragt haben – allerdings weiterhin als Zeugen. Zwar habe Mario S. laut dem zitierten Protokoll bestätigt, bei ihm würden regelmäßig Kinder übernachten. Auf die Frage der Beamtin, ob er eine &bdquo;Affinität“ zu Kindern habe, soll S. allerdings geantwortet haben: &bdquo;Nein, ganz bestimmt nicht. Mit Kindern habe ich in sexueller Hinsicht überhaupt nichts.“ Die Beamtin habe sich damit offenbar zufrieden gegeben – die nächsten Tage passiert nichts, was die Parlamentarier zumindest nach Aktenlage stutzig macht.

Erst als ein weiteres Mädchen Mario S. Anfang 2019 belastet haben soll, habe die Kommissarin einen Vermerk angefertigt, in dem sie einen Durchsuchungsbeschluss und einen Haftbefehl anregte. Die Staatsanwaltschaft Detmold beantragt daraufhin am 4. Januar 2019, die Wohnung von S. in Steinheim sowie seinen Wohnwagen auf dem Campingplatz zu durchsuchen.

Der Durchsuchungsbeschluss wird am selben Tag vom Amtsgericht Detmold erlassen, offenbar geht beim Übermitteln per Fax aber etwas schief, mutmaßlich sind die Postleitzahlen vertauscht, weshalb die Polizei nicht ausrückt. Amtsgerichtsdirektor Michael Wölfinger kann sich zur damaligen Situation nicht äußern und verweist auf die Detmolder Staatsanwaltschaft.

Staatsanwaltschaft Detmold muss Aktenberge aus dem Keller holen Die offenen Fragen rund um die rekonstruierte Verhaftung von Mario S. kann aber auch Staatsanwalt Alexander Görlitz auf Anhieb nicht so einfach beantworten. Dutzende Bände zum Lügde-Komplex lagerten im Keller der Ermittlungsbehörde, sie müssten alle hochgeholt und durchforstet werden. &bdquo;Das wird ein paar Tage dauern“, sagt Görlitz. Bis dahin könne er keine Details zu den damaligen Ermittlungsschritten nennen.

Fest steht, dass Mario S. erst am 11. Januar 2019 festgenommen wurde, nachdem das Amtsgericht Detmold am Tag zuvor einen Haftbefehl erlassen hatte. Die Beamten stellten bei ihm 4806 Bild- und Videodateien mit kinder- und jugendpornografischen Inhalten sicher. Einige davon hatte S. selbst hergestellt.

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss will nun herausfinden, weshalb sich die Festnahme so lange verzögert hat und ob möglicherweise Weihnachtsurlaub bei der Ermittlungskommission &bdquo;Camping“ eine Rolle dabei spielen könnte. &bdquo;Wir haben den Beweisantrag gerade beschlossen“, sagt Ausschusssprecher Dietmar Panske der LZ. &bdquo;Es geht darum zu schauen, wer überhaupt wann im Einsatz war.“

Demnächst soll die Kreispolizeibehörde offenlegen, wann die Mitglieder der Ermittlungskommission zwischen Ende 2018 und Anfang 2019 dienstfrei hatten. Wegen der laufenden Untersuchungen wollte sich die Polizei Lippe derzeit nicht zu den damaligen Vorgängen äußern.

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