Wenn „Blaumachen“ zur Regel wird: Immer mehr Schulverweigerer alarmieren Lipper Experten

Kreis Lippe. Dass Kinder und Jugendliche den Schulbesuch verweigern, ist mittlerweile auch in Lippe ein &bdquo;echtes Problem, das uns große Sorge macht“, sagt Dr. Kerstin Ahaus, Leiterin des Kreis-Gesundheitsamtes. Kreisweite Zahlen über alle Schulformen gibt es zwar nicht - Berichte aus Kalletal und Bad Salzuflen zeigen jedoch exemplarisch, dass Dr. Ahaus wohl richtig liegt.

Daten, die ihre Einschätzung unterstreichen, sind jüngst i n Kalletal am Beispiel der Jacobischule bekannt geworden : 87 Kinder (knapp ein Viertel der Schüler) haben aktuell mehr als 100 Fehlstunden. Eine Sozialarbeiterin hatte aus ihrer Erfahrung berichtet und konstatiert: &bdquo;Manchmal geht es um Mobbing. Die Fähigkeit, Konflikte und andere Meinungen auszuhalten, geht verloren. Manchmal geht es auch um Vereinsamung.“ Die Gründe seien eben sehr individuell. Für Oliver Dudek, Leiter der Gesamtschule Aspe in Bad Salzuflen, spielen gesellschaftliche Problemlagen eine große Rolle: &bdquo; Denen zu begegnen ist insbesondere dann eine riesige Herausforderung, wenn die Eltern nicht mitziehen“, hatte er dieser Zeitung gesagt.

Zahl der Bußgeldverfahren steigt Wie berichtet, ist die Zahl der bis zu 1400 Euro schweren Bußgeldverfahren für diejenigen, die häufig oder dauerhaft die Schule schwänzen (Schulabsentismus), binnen fünf Jahren NRW-weit um die Hälfte auf 8800 gestiegen . Für Lippe lässt sich diese erschreckende Tendenz mit Zahlen nur für die Grund-, Haupt- und Förderschulen belegen, denn dafür ist das Schulamt des Kreises zuständig. Demnach sind allein in diesem Jahr bis jetzt schon 73 Bußgeldverfahren durchgesetzt worden (darunter 20 Alt-Fälle aus 2024); vergangenes Jahr waren es 33, davor 44.

&bdquo;Wir sehen nur die Spitze des Eisberges“ Zahlenbasis sind also ausschließlich die Bußgeldverfahren, tatsächlich gibt es jedoch deutlich mehr Verweigerer, sagen Kerstin Ahaus und Janine Tölle, die Leiterin des Fachgebietes Kinder- und Jugendärztlicher Dienst. &bdquo;Die Zahlen spiegeln nicht die Wirklichkeit wieder. Wir sehen nur die Spitze des Eisberges“, erklärt Kerstin Ahaus. &bdquo;Allgemein ist festzustellen, dass Schulen entsprechende Schüler inzwischen häufiger der Aufsichtsbehörde melden“, ordnet die Pressestelle des Kreises Lippe ein. Zu den weiterführenden Schulen gibt es seitens der dafür zuständigen Bezirksregierung keine lippeweite Statistik; im Regierungsbezirk waren es 819 - diese Zahl ist seit fünf Jahren in etwa konstant.

Für Lippe haben die beiden Ärztinnen die Situation im Blick. Gründe, der Schulpflicht nicht nachzukommen, seien ganz unterschiedlich, sagt Janine Tölle. Zu sagen, die Grundschulkinder würden &bdquo;einfach nicht geschickt“ oder die Eltern hätten die Kinder nicht im Griff, sei zu einfach. Zuweilen steckten tiefere Problematiken dahinter, die Eltern können &bdquo;nicht loslassen“, vermittelten den Kindern das Gefühl, in der Schule &bdquo;nicht gut aufgehoben“ zu sein. Allzu schnell folge zuweilen auf ein &bdquo;ich habe keine Lust, in die Schule zu gehen“ ein &bdquo;Ach, dann bleibst Du heute mal zu Hause“. Wenn sich das festsetze - und Kinder sind schlau -, dann haben die Eltern ein Problem

Letzte Instanz Das Gesundheitsamt kommt übrigens erst ins Spiel, wenn die Schule sich meldet und den Auftrag erteilt, die Schulgesundheit der Absentisten zu begutachten. &bdquo;Die waren dann im Durchschnitt schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr im Unterricht, manchmal ein Jahr oder sogar drei“, sagt Janine Tölle. Ein überraschend langer Zeitraum, oder? &bdquo;Ja, aber wir sind nun mal die letzte Instanz, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, mit den Familien zu arbeiten.“ Wenn Kinder dann psychiatrische Erkrankungen haben, gibt es das nächste Problem. &bdquo;Sie und ihre Familien in ein Versorgungssystem zu bekommen, ist schwierig“, spricht die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin die bekanntlich unzureichende Kinder- und Jugendpsychiatrische Versorgung an.

Ab wann gelten &bdquo;Blaumacher“ überhaupt als Schulverweigerer? Ab etwa 50/60 Stunden innerhalb eines Schulhalbjahres, erklärt Janine Tölle. Das seien manchmal krankheitsbedingte Fehlstunden, aber häufig schafften es Mädchen und Jungen, zunächst öfter mal nach der dritten Stunde zu gehen, später vielleicht ab und zu gar nicht mehr zu kommen... &bdquo;So baut sich das auf. Das fällt zuweilen erst gar nicht auf. Oder erst am Ende des Schuljahres, wenn die Fehlstunden summiert werden und die Schulen beschließen, ein Elterngespräch zu führen. Ob das dann stattfindet ... so entwickelt sich das. Man kann das nachvollziehen, aber das macht es nicht besser.“

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