Archäologe ist sich sicher: Varusschlacht tobte um Haaresbreite in Lippe

Kreis Lippe. Varus stürzte sich nur wenige Meter vor Lippes Grenzen in das eigene Schwert. Dessen ist sich Archäologe Dr. Stephan Berke (68) sicher. Gerade hat er die laufende Sonderausstellung &bdquo;Denk:Mal!“ für das Lippischen Landesmuseum mitkuratiert und im Begleitband publiziert (im Landesmuseum erhältlich): Den vernichtenden Schlag erlitten die Legionen in der Nähe von Oerlinghausen. Die Hauptrolle spielt das 2018 bei Sennestadt entdeckte Marschlager aus augusteischer Zeit , das wohl in den Jahren zwischen 1 und 16 nach Christus angelegt wurde sowie rund 25.000 Menschen und damit locker drei Legionen Platz bot. Der Fund ist nach Dr. Berkes Auffassung die Basis für die erste wissenschaftliche Gegentheorie zu Kalkriese als Ort der Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus, die sich mit archäologischen Befunden belegen lässt.

Lage entspricht den Quellen In seinem Text schildert er: Die topografische Lage entspreche den Quellen römischer Geschichtsschreiber. Das Lager sei außerdem unter Zeitdruck und kampfbereit errichtet worden, und &bdquo;bietet eine schlüssige Lösung für eine Verortung der Niederlage des römischen Heeres“. Es sei &bdquo;nach aktuellem Forschungsstand der überzeugendste Kandidat für ein römisches Lager im Kontext der Varusschlacht“ und der Platz außerdem leicht erreichbar für die beteiligten germanischen Stämme der Cherusker, Marser und Brukterer gewesen. Alles spreche dafür, dass es &bdquo;sich um das letzte römische Lager vor der endgültigen Niederlage handelt“, weswegen ein gezieltes wissenschaftliches Forschungsprogramm nötig sei.

Keine Funde - aber ein Lager Der Ansatz ist mutig, denn bei neuen Orten für die Varusschlacht wird man schnell skeptisch. Kein Wunder, denn es wurden über die Jahrhunderte hinweg mindestens siebenhundert davon postuliert. Dr. Stephan Berke sitzt in seinem kleinen Büro im Lippischen Landesmuseum und nickt. Das ist ihm natürlich klar, und das Problem bei allem ist zunächst: Es gibt keine wirklich präzise Ortsbeschreibung des Kampf-Ereignisses, allenfalls von Cassius Dio und Tacitus. Der beschreibt spätere Rachefeldzüge, bei denen man im Bereich der Oberläufe von Ems und Lippe und nahe am Teutoburger Wald erstmal aufgeräumt und die zahllosen Knochen begraben habe.

Das nächste Problem: Hierzulande gab es nirgends Funde, dafür aber massenweise welche in Kalkriese. Und natürlich kommt es sehr passend, dass pünktlich zum Jubiläum &bdquo;150 Jahre Hermannsdenkmal“ ein am Lippischen Landesmuseum beschäftigter Wissenschaftler sagt: &bdquo;Der Hermann steht richtig. Der finale Schlachtort lag knapp 50 Meter vor Lippes Grenzen bei Haus Neuland, und man kann ihn vom Denkmal aus sehen.“

Dennoch hat Kalkriese als möglicher Schauplatz der Schlacht Ostwestfalen/Lippe längst den Rang abgelaufen: Dort gab es viele Funde, auch glauben Wissenschaftler, in Kalkriese die Anwesenheit der 19. Legion verorten zu können, die unter Varus aufgerieben wurde. Dr. Berke betont, dass es dort mit Sicherheit Kampfereignisse gegeben habe. Aber es gebe seit Jahren in der Fachwelt auch diverse Zweifel daran, ob diese mit der Varusschlacht zu tun gehabt hätten. Auch die Topografie ist schwierig, wenn man die römischen Quellen zugrunde legt. Nahe des Teutoburger Waldes zwischen den Oberläufen von Ems und Lippe - Dr. Stephan Berke erklärt: &bdquo;Das ist ein Areal von rund 30 Kilometern Durchmesser, und Kalkriese liegt ganz und gar nicht in der Nähe.“

Sennestadt ist mittendrin Mittendrin allerdings liegt das römische Marschlager bei Sennestadt, das 2018 ein Hobbyforscher entdeckte. Archäologen von der zuständigen Behörde des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe haben es untersucht – mit dem Ergebnis: Es handelte sich um ein römisches Marschlager von rund 26 Hektar Größe, in das rund 25.000 Menschen passten und das ungefähr in der Zeit zwischen 2 und 16 nach Christus entstanden ist. Das reicht für drei Legionen samt Kohorten, Reiterei und Tross, und die Varusschlacht war 9 nach Christus.

Passt alles wie die Faust aufs Auge. Weswegen sich Dr. Berke den Fall genauer ansah. &bdquo;Wir haben hier aktuell allerdings nur das Lager“, schränkt er ein, &bdquo;und keinerlei sonstige Funde. Ich bin mir sicher: Die gibt es. Das Areal müsste entsprechend untersucht werden.“ Warum ist das noch nicht passiert? Dr. Berke zuckt mit den Schultern. Da gebe es unterschiedliche Ursachen. Corona kam dazwischen, die zuständige Dienststelle LWL-Archäologie für Westfalen habe außerdem sehr viel zu tun. Der LWL bestätigt das: &bdquo; Durch den Halterner Bauboom der letzten Jahre war unser Provinzialrömisches Referat stark gebunden, ist aber momentan in Planungen für weitere Maßnahmen“, heißt es aus Münster. Und Dr. Berke betont: E ine ergebnisoffene, großflächige Untersuchung sei angezeigt – auch nach weiteren Marschlagern östlich vom Teutoburger Wald: Das wäre dann womöglich in Lippe.

In Kalkriese wiederum ist es umgekehrt. Dort gibt es jede Menge Funde, aber nach Worten von Dr. Berke wiederum kein Marschlager, und genau das müsste es geben. Unstreitig sei, dass dort ein Kampfgeschehen stattgefunden hat: Kalkriese ist das erste in Teilen ausgegrabene Schlachtfeld dieser Zeit überhaupt. Außerdem haben Forscher des Deutschen Bergbaumuseums 2022 Metalle analysiert und verglichen. Der metallurgische Fingerabdruck wies Material der 19. Legion in Kalkriese nach, und jene wurde in der Varusschlacht aufgerieben. Passende Münzfunde gab es außerdem. Klare Belege, wie man in Kalkriese findet.

Klare Belege - oder doch nicht? Das sieht Dr. Berke anders. Einerseits sei die Dissertation der Wissenschaftlerin, die die Funde metallurgisch untersucht habe, nicht publiziert und man könne daher nicht genau nachlesen, wie und was da genau unter die Lupe genommen wurde. Andererseits seien Legionen sowieso mal hier, mal da gewesen. Metall habe man zudem gesammelt, eingeschmolzen und wiederverwertet. Insofern gebe es unterschiedliche Wege, wie von der 19. Legion genutztes Material nach Kalkriese gelangt sein könnte, und daher sei die pure Anwesenheit von Funden nach seiner Meinung kein Beleg dafür, dass die Legion selbst tatsächlich dort gewesen ist und gekämpft hat.

Dr. Berke schildert: &bdquo;Was wir haben, sind Beschreibungen des Kampfes und Angaben zum Kampfort, vor allem von Cassius Dio und Tacitus.“ Darin gehe es um das Areal zwischen den Oberläufen von Ems und Lippe und den Teutoburger Wald. Die Ortsmarken umfassen ungefähr ein Gebiet mit Paderborn, Schloß-Holte, Rheda-Wiedenbrück beziehungsweise Oelde im Westen und den Teutoburger Wald mit Oerlinghausen sowie dem Bielstein im Osten. Innerhalb dieses Areals von rund 30 Kilometern Durchmesser seien die Legionen final aufgerieben worden. Und mittendrin sei nun ein Marschlager aus der passenden Zeit in der passenden Größe gefunden worden. Außerdem spreche der Stil des Lagers dafür, dass es rasch errichtet und mit sogenannten Clavicula-Toren ausgestattet wurde – spezielle Tore, die den Römern die Verteidigung leichter und es Angreifern schwerer machten. &bdquo;Was ein Hinweis darauf sein könnte“, so Dr. Berke, &bdquo;dass man im Kampfgeschehen war.“

Ein Lager im Kampf Dr. Berke erklärt: &bdquo;Die Frage ist immer: Traut man den Quellen, oder biegt man sie sich hin?“ Traue man den Quellen, dann komme Kalkriese als Ort der Varus-Schlacht jedenfalls nicht in Betracht. Das Gelände vor den Toren Lippes hingegen schon. &bdquo;Und“, ergänzt er, &bdquo;es dürfte nicht nur ein Marschlager gegeben haben, sondern in jedem Fall drei, und man muss immer in Betracht ziehen: Für ein solches Lager braucht man Fläche.“ Flächen, die am Ende vielleicht im Kreis Lippe liegen könnten, östlich des Teutos, wie er in seinem Text schildert. Dr. Stephan Berke bleibt da lieber noch verhalten. Aber am 29. Januar hält er um 19 Uhr im Lippischen Landesmuseum einen Vortrag. Worum geht es? &bdquo;Um weitere Perspektiven“, erwidert er vage. Wer weiß, welche das sein mögen ...

Hören Sie auch den mehrteiligen LZ-Podcast &bdquo;Mythos“ über Hermann und die Römer.

Persönlich Dr. Stephan Berke (68) ist Archäologe und lebt im Sauerland. Er hat in Münster studiert, promoviert und hatte dort einen Lehrauftrag für Provinzialrömische Archäologie. Zwischen 2008 und 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Ausstellung &bdquo;Mythos“ des Landesverbandes Lippe, danach Mitarbeiter an der Uni Marburg in einem Projekt über die römische Nekropole in Haltern und hatte einen Archäologie-Lehrauftrag in Trier, wo er auch Kustos der Sammlung an der Uni war. 2023 ging er in den Ruhestand, ist aber für die Sonderschau im Landesmuseum &bdquo;Denk:Mal!“ anlässlich 150 Jahre Hermannsdenkmal nochmals nach Detmold gekommen und hat hier einen Jahresvertrag bis April.

Die Schlacht Vier Tage lang zogen sich die Kämpfe hin, in der ein Achtel des römischen Heeres vernichtet wurde. Mit rund 25.000 Menschen war der aus drei Legionen, sechs Kohorten und drei Alen genannten Reiterstaffeln plus Tross an die zwanzig Kilometer lang. Unter der Führung von Arminius, im hiesigen Volksmund Hermann genannt, beendeten vereinte germanische Stämme das weitere Vordringen und attackierten Varus Truppen aus dem Hinterhalt, in Schluchten und Wäldern, wo die römische Armee ihre Kampfkraft und Taktiken nicht entfalten konnte. An Tag 1 marschierten die Römer durch dicht bewaldetes und zerklüftetes Gelände, werden von den Germanen attackiert, können sich kaum verteidigen, schlagen abends ein Lager auf und verbrennen unnötiges Gepäck. An Tag 2 wird unter weiteren Angriffen marschiert, eine offene Fläche erreicht sowie später ein zweites Lager aufgeschlagen. An Tag 3 geht es wieder durch den Wald, wobei die Germanen weiter attackieren und die Verluste Roms immens sind, weil sich die Truppen gegenseitig behindern. Am Abend wird ein weiteres Lager aufgeschlagen, die Lage ist kritisch. Am finalen Tag 4 machen Sturm und Regen den Römern das Kämpfen gegen die leicht ausgerüsteten und ortskundigen Germanen fast unmöglich. Alles bricht auseinander, Feldherr Varus und seine Offiziere begehen Selbstmord, um der Gefangenschaft zu entgehen – die Überlebenden werden niedergemacht oder fliehen.

Das Lager bei Sennestadt Das Lager befindet sich in der Oerlinghausener Senne, unmittelbar am Menkhauser Bach. Das Gelände wurde nie landwirtschaftlich genutzt, sodass sich noch heute die Wallstrukturen erkennen lassen. Mit Laserscans aus der Luft bestimmte die LWL-Archäologie für Westfalen: Mit einer Größe von rund 26 Hektar entspricht das Lager ungefähr 36 Fußballfeldern. Darin hätten ohne Probleme drei römische Legionen inklusive Hilfstruppen und Tross gleichzeitig untergebracht werden können, also je nach Truppenstärke zirka 25.000 Menschen, beschrieb Dr. Bettina Tremmel von der LWL-Archäologie für Westfalen 2019 anlässlich der ersten Auswertung des Lagerfundes. Der noch erhaltene Wall ist etwa 1400 Meter lang. Entlang des Bachtales im Osten verzichteten die Legionäre auf die Errichtung eines Walls. Die mehrere Meter hohe Hangkante zum Bach hin bildete ein natürliches Annäherungshindernis. An seiner nordöstlichen und seiner nordwestlichen Seite weist der noch sichtbare Wall jeweils ein Tor auf. Es handelt sich hierbei um eine besondere Torform, das sogenannte Clavicula-Tor. Dabei verläuft eine Wallseite mit einem Schwenk viertelkreisförmig nach innen, sodass ein verengter Eingang entsteht. Das diente zur leichteren Verteidigung des Tors und bremste feindliche Kräfte in ihrem Ansturm. Die Wall-Graben-Anlage ist typisch für römische Lager, die am Ende jedes Tagesmarsches für eine kurze Nutzungsdauer angelegt wurden. Die Maße und die Form weisen darauf hin, dass dieses Lager in augusteischer Zeit angelegt worden ist. Es fehlen bislang noch römische Funde, die eine engere Datierung möglich und damit klarer machen würden, auf welche unterschiedlichen militärischen Vorstöße Roms in Germanien der Bau des Marschlagers zurückzuführen ist. Künftig stehen noch weitere Untersuchungen auf dem Gelände an.

Kalkriese &bdquo;Varusschlacht im Osnabrücker Land – Museum und Park Kalkriese“ heißt das archäologische Museum bei Bramsche/Osnabrück. Seit 1989 wird die Region systematisch archäologisch erforscht. Es gibt Tausende von römischen Funden, schreibt das Museum auf seiner Webseite. Zuletzt war für eine Doktorarbeit, die am Deutschen Bergbaumuseum in Bochum eine Art metallurgischer Fingerabdruck der 19. römischen Legion abgenommen, die in der Varusschlacht unterging. Dieser wurde mit Funden in Kalkriese verglichen, und es gab signifikante Übereinstimmungen. &bdquo;Der römische Historiker Cassius Dio beschrieb zwei Jahrhunderte nach der römischen Niederlage die Kämpfe. Nur Tacitus hielt beiläufig fest, dass diese Kämpfe in der Nähe des Teutoburger Waldes stattgefunden haben sollen“, erklärt das Museum. Doch keine geografische Karte verzeichne diesen Höhenzug bis zum 17. Jahrhundert, als man den Osning in Teutoburger Wald umbenannte. Da würden nur wissenschaftliche Fakten zur Ortsbestimmung helfen. Und die Forschungen in Kalkriese belegten eindrücklich, dass hier eine militärische Auseinandersetzung zwischen Germanen und römischen Truppen stattgefunden und die römische Seite hier eine vernichtende Niederlage erfahren habe.

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