Qual oder Nutzen? Kontroverse um Drückjagden in Lippe

Kreis Lippe. Hunde und Treiber scheuchen das Wild aus seinem Versteck und lenken es in Richtung der Jäger. Diese warten an festen Positionen – und erschießen das Wild: Das ist eine Drückjagd. In dem Artikel &bdquo; Waldbesucher aufgepasst: Die Drückjagdsaison in Lippe hat begonnen “ hieß es vom Jagdverband, der Kreisjägerschaft Lippe und dem NRW-Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz, dass die Drückjagd Wildbestände reguliere, Jungbäume vor Wildverbiss schütze und verhindere, dass Krankheiten wie etwa die Afrikanische Schweinepest sich ausbreiten. Der Biologe Dr. Martin Steverding und zwei lippische Tierschutzvereine widersprechen dem.

Sie sind sich in ihren Pressemitteilungen einig, dass Drückjagden weder Bestände regulieren würden oder sonst irgendwie von Nutzen seien. &bdquo;Die Jagd bewahrt uns und die Tiere vor Krankheiten, Seuchen und Parasiten? Mitnichten, genau das Gegenteil ist der Fall – und es benötigt kein Spezialwissen über Populationsbiologie, um das zu verstehen“, meint Dr. Martin Steverding. Drückjagden seien überaus grausam und schädlich.

Michaela Latzel, stellvertretende Vorsitzende des Vereins &bdquo;Unsere Hände für viele Pfoten“, unterstreicht die These: &bdquo;Seuchen werden in erster Linie durch menschliches Handeln verbreitet, wie Transporte, Müll oder Massentierhaltung, nicht durch Wildtiere. Drückjagden zersprengen Rotten, treiben Tiere auseinander und fördern so sogar die Verbreitung von Krankheitserregern.“ Auch die Vorsitzende Daniela Klöpperpieper meint, das Töten von Wildtieren sei weder Naturschutz noch notwendig: &bdquo;Es ist eine Form legalisierter Tierquälerei.“

Was sagt die Wissenschaft? Das Stichwort lautet &bdquo;kompensatorische Fertilität“. Dr. Martin Steverding erklärt: &bdquo;Ist die Sterblichkeit einer Tierart sehr hoch, versucht sie diese durch eine stärkere Vermehrung auszugleichen.“ Das stelle den Erhalt der Art sicher und funktioniere seit Millionen Jahren. &bdquo;Dies wird von Jägern gern geleugnet, ist aber bei allen heimischen jagdbaren Tieren evident“, sagt er.

Bei Tierarten mit einer hohen Vermehrungsrate wie dem Wildschwein führe dies in der Regel nicht zu einem Bestandsrückgang, sondern dazu, dass der Anteil von Jungtieren steige, die Dynamik sich erhöhe und mehr Jungtiere auf der Suche nach freien Revieren seien. &bdquo;In einer nicht bejagten Population ist weniger Bewegung“, erklärt er. &bdquo;Man kann sich vorstellen, wo Krankheiten und Parasiten schneller transportiert und verbreitet werden.“

Gibt es einen Zusammenhang? Der gebürtige Lipper Dr. Thomas Gehle ist Dezernent für Niederwild an der Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadenverhütung des Landes Nordrhein-Westfalen. Einen Zusammenhang sieht er zwischen der Vermehrung der Tiere und der Drückjagd nicht, denn: Die Fertilität, also die Fruchtbarkeit eines Tieres, beschreibe nur, dass sie geschlechtsreif seien und danach selbst Jungtiere austragen könnten. Wie sich eine Population aber entwickle, hänge viel mehr davon ab, wie hoch die tatsächliche Anzahl lebender Nachkommen sei, die sich weiter fortpflanzen.

Das aber werde in erster Linie durch Umweltfaktoren wie Nahrungsangebot, Witterung und Lebensraum bestimmt – nicht durch die Jagd: &bdquo;Auf einer so großen, bejagbaren Fläche wie der des Kreises Lippe (103.000 Hektar), bleibt die Anzahl erlegter Tiere ein Teil der Gesamtsterblichkeit“, sagt er.

Ein Wechselspiel Die werde dann entweder – beispielsweise beim Wildschwein – über die Anzahl der überlebenden Frischlinge und die Zahl einwandernder Sauen ausgeglichen, oder aber die lippische Wildschweinpopulation breche wegen eines zu knappen Nahrungsangebotes in einem harten Winter zusammen: &bdquo;Frischlinge erfrieren dann oder überleben nicht allzu lange. Unter älteren Sauen nimmt die Sterblichkeit über den Winter und das darauffolgende Frühjahr enorm zu.“ Wildschweinbestände regulieren sich also von selbst, erklärt er.

Die Bestände würden dabei stark schwanken – von Jahren mit kaum Nachwuchs oder einem Einbruch der Population bis hin zu Phasen starken Wachstums bei günstigen Bedingungen. Das Ergebnis seien stark wechselnde Bestandsgrößen. Wenn die Population nachhaltig bejagt werde, würde die Gesamtsterblichkeit ausgeglichen werden – womit die Jagd keinen Einfluss auf Zu- oder Abnahmen habe.

Die Natur &bdquo;regelt“ Würde die Natur das Gleichgewicht der Bestände nicht auch selber regeln? &bdquo;Die Natur ,regelt’ so oder so. Sie regelt alles immerzu und überall.“ Im Bezug auf die Afrikanische Schweinepest aber würde laut Dr. Gehle ein Ausbruch in einem Gebiet mit hoher Wildschweindichte zu vermehrtem Tierleid führen.

Darum bestehe die jagdliche Strategie darin, die Bestände auf ein niedrigeres Maß zu beschränken: &bdquo;Ob das Bejagen die Ausbreitung eines Krankheitserregers begünstigt oder verhindert, hänge von recht vielen Umständen ab“, erklärt er. Der Fokus beim Bejagen der Wildschweinbestände liege derzeit darin, die Populationsdichte zu senken. Das solle eine Erregerausbreitung verhindern: &bdquo;Drückjagden stellen dabei die effektivste Form der Bejagung für Wildschweine im Herbst und im Winter dar.“

Doch nicht nur Krankheiten belasten die Natur: Waldgebiete, die in den vergangenen Jahren durch Trockenheit und den Borkenkäfer zerstört wurden, müssen aufgeforstet werden. Der Wildverbiss aber verhindere, dass Bäume heranwachsen könnten. Diese werden zwar eingezäunt, um sie vor Wildverbiss zu schützen, doch auch die Bejagung könne ein möglichst ungestörtes Heranwachsen der Jungpflanzen unterstützen.

Eines zeigen die vertretenen Positionen klar: Die Diskussion ist je nach Standpunkt und Betrachtungsebene unterschiedlich. Eine einfache Antwort gibt es nicht.

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