Kindeswohl: Verdachtsfälle sind in Lage sprunghaft angestiegen

Lage. Nicht zuletzt durch den Missbrauchsskandal von Lügde ist die Zahl der Meldungen über eventuelle Fälle von Kindeswohlgefährdung in Lage stark gestiegen. Stand 31. Mai gab es bereits 79 Anzeigen.

An das hiesige Jugendamt hatten sich im Jahr 2015 zunächst 42 Bürger gewandt, ein Jahr später waren es schon 63. Die Zahl stieg Ende 2017 auf 99 Fälle, ein Jahr später auf 116, und 2019 waren es 128 Nennungen. Fachgruppenleiter Dirk Pahmeier vom Fachbereich Schule, Sport, Kultur, Jugend und Soziales sowie Maria Kiehl-Hamann, Teamleiterin für den Allgemeinen Sozialen Dienst, erachten eigenen Angaben zufolge jeden Hinweis als wichtig – und gehen jedem nach.

&bdquo;Die Bevölkerung nimmt mehr wahr und teilt mehr mit", so Dirk Pahmeier. &bdquo;Die Sensibilität ist heute eine andere. Es ist wichtig, dass sich Leute melden", erklärt Maria Kiehl-Hamann. Dabei hat sie festgestellt, dass zu Beginn der Coronavirus-Krise wenig Anrufe kamen und dann doch ziemlich viele, teilweise mehrere an einem Tag.

Die Vorgehensweise ist genau festgelegt und basiert auf dem Mehrere-Augen-Prinzip. Anrufer können ihren Namen sagen, anonym bleiben oder brauchen im Laufe des Verfahrens nicht genannt werden. Sie erzählen zunächst einmal ihre Beobachtungen. Geht es um einen akuten Fall, etwa wenn ein Kind gerade geschlagen wird, fahren zwei Mitarbeiter des Jugendamtes gleich raus.

Besteht für ein Kind eine akute Gefahr, rufen sie die Polizei Sie können vor Ort darum bitten, hereingelassen zu werden, dazu verpflichtet sind Eltern aber nicht. Jetzt müssen die Mitarbeiter entscheiden: Besteht für ein Kind eine akute Gefahr, rufen sie die Polizei. Ansonsten bestehen sie darauf, das Kind zu sehen und schauen sich in der Wohnung um.

&bdquo;Manchmal sagen Eltern oder Alleinerziehende, dass sie froh sind, dass wir kommen, weil sie Hilfe brauchen", erzählt Kiehl-Hamann. In seltenen Fällen müsse ein Kind sofort aus der Familie herausgenommen werden. &bdquo;Man muss abwägen, ob das Kind gefährdet und was für es schlimmer ist." Denn plötzlich Mutter und Vater nicht mehr sehen zu dürfen, ist für ein Kind ein Schock.

Die Sachlage einzuschätzen, ist manchmal nicht ganz einfach. Die beiden Mitarbeiter tauschen sich vor Ort aus. Dass jeder vielleicht einen anderen Blickwinkel hat, ist allen bewusst und wird positiv gesehen. Schließlich kommt es auf die Eltern an, ob sie ein Problembewusstsein haben, mit dem Jugendamt kooperieren wollen und theoretisch bereit sind, sich zu ändern.

Denkbar ist, dass ein Kind blaue Flecken hat, weil es eine entsprechende gesundheitliche Disposition hat oder gefallen ist. In einem Fall stellten sich Abdrücke von glühenden Zigaretten als Stiche von einer südländischen Fliege heraus. Nicht sichtbar ist dagegen psychische Gewalt und natürlich auch Missbrauch mit seinen fatalen Auswirkungen auf die Seele eines Kindes.

&bdquo;Missbrauch zu erkennen, gehört zu den schwierigsten Fällen", sagt Maria Kiehl-Hamann. Ist eine Wohnung verdreckt, die Eltern überfordert und wollen nichts ändern, dann kann das Jugendamt das Familiengericht einschalten. Denn gegen den Elternwillen kann das Jugendamt nichts tun, nur bei akuter Gefahr für ein Kind.

Das Gericht lädt die Eltern binnen vier Wochen zu einem gemeinsamen Termin ein. Die Entscheidungen von diesem sind bindend. So kann im Rahmen der Familienhilfe festgelegt werden, dass die Eltern Erziehungshilfe in Anspruch nehmen müssen. Oder die Eltern müssen mit dem Kind wegen blauer Flecken zum Arzt gehen und erlauben, dass der dem Jugendamt darüber Auskunft gibt.

Es gibt vier Gefährdungsstufen Nach jedem Anruf erstellt der jeweilige Mitarbeiter mit Hilfe des Melde- und Einschätzungsbogens ein Gesprächsprotokoll mit weiteren Informationen. Zu dritt werden diese dann bewertet und entschieden, ob die Sache noch zwei Stunden oder vielleicht sogar einige Tage Zeit hat. Nach dem Hausbesuch werden die Risikoeinschätzungsbögen ausgefüllt.

Hier wird der Haushalt bewertet (beispielsweise ob genug Essen vorhanden ist) und werden Beobachtungen über das Verhalten des Kindes (etwa Autoaggression oder motorische Auffälligkeiten) eingetragen. Zur Erziehungsleistung wird nach einer verlässlichen Tagesstruktur geschaut, ob das Kind regelmäßig in eine Kita geht und seine emotionalen Bedürfnisse befriedigt werden.

Bei der Gesamteinschätzung überlegen sich zwei Mitarbeiter und die Leitung, in welche von vier Gefährdungsstufen der Fall einzuordnen ist. Das gesamte Vorgehen hat sich bewährt. Pahmeier: &bdquo;Wir arbeiten seit 2015 mit dem Modell und fahren sehr gut damit."

Die Eltern erfahren, was sie in Zukunft besser machen können oder was sie nicht tun dürfen. Das wird in Abständen wieder kontrolliert. Häufig gibt es eine sozialpädagogische Familienhilfe. Die Eltern müssen sich damit einverstanden erklären. Haben sie zum Beispiel psychische Probleme, werden auch regelmäßige Arztbesuche kontrolliert – oder das Familiengericht muss eingeschaltet werden. &bdquo;Am liebsten arbeitet man mit den Eltern zusammen. Das ist der gesetzliche Auftrag", resümiert Maria Kiehl-Hamann.

Gewisse Situationen – gerade, wenn es sich um Inobhutnahmen von sehr kleinen Kinder handelt oder Bedrohungssituationen – bleiben den Mitarbeitern lange im Gedächtnis haften. Trotzdem macht Maria Kiehl-Hamann ihre Arbeit gern. &bdquo;Für den Schutz von Kindern zu sorgen und mit den Eltern zusammenzuarbeiten, kann sehr gewinnbringend sein."

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