Als die Autowelt aus der Lagenser Gasstraße beliefert wurde

Lage. Eine Firma aus der Zuckerstadt war seit den 1920er Jahren mit dafür verantwortlich, dass die damals noch junge Erfindung des Automobils so richtig ins Rollen kam und zum Massenprodukt wurde: Reiche & Co aus der Gasstraße stellten über Jahrzehnte Millionen von Lenksäulen her.

Der erste Kunde der Lagenser aus der Autobranche war der Weltkonzern Ford mit seinem deutschen Stammsitz in Köln. Reiche & Co. produzierte für Ford Rohrrahmen für Sitze. Viele prominente Kunden sollten folgen: Audi, Volvo, Opel oder General Motors. Für die letztgenannten Amis und seine Pick-ups baute Reiche & Co. zwischenzeitlich 1,8 Millionen Lenkungskomponenten im Jahr, erinnert sich Carl Reiche.

Mit dem Fahrrad auf Standortsuche Der Name ist kein Zufall: Sein Urgroßvater Franz Reiche gründete das Unternehmen Anfang 1911, drei Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. &bdquo;Mein Urgroßvater war zuvor in einer Fahrradfirma in Bielefeld beschäftigt und hatte ein neues Schweißverfahren für Rohre entwickelt. Mit dem Fachwissen sollte er eine eigene Abteilung gründen dürfen, hieß es damals. Als es nicht dazu kam, schwang sich mein Urgroßvater aufs Fahrrad“, erzählt Carl Reiche (Jahrgang 1960). Mit dem Rad suchte Franz Reiche die nähere Umgebung nach einem geeigneten Standort für seine neue Firma ab – und wurde in der Gasstraße in Nähe des Lagenser Bahnhofs fündig.

Der Selfmade-Man fackelte nicht lange und fing an, Metallerzeugnisse zu produzieren. Zum Start hatte er drei Mitarbeiter Nach kurzer Zeit kamen zwei seiner vier Söhne, Paul und Carl, zur Ausbildung in das junge Unternehmen. Ende 1911 zählte Reiche & Co. bereits 21 Mitarbeiter. Nach Ende seiner kaufmännischen Ausbildung trat auch Sohn Kurt 1912 in die väterliche Firma ein. Die beiden Brüder, Ingenieur Carl und Kaufmann Kurt Reiche, führten das Unternehmen bis 1958 beziehungsweise 1980. Nach ihrem Tod wurde die Verantwortung auf Carl-Heinz Reiche (1926-2009), einen der Enkel des Gründers, übertragen.

Mehr als 500 Beschäftigte Reiche & Co. war in drei Geschäftsbereichen tätig: Stahlrohre, Sicherheitsteile für die Automobilindustrie und Innenausstattungsteile wie Sitzgestelle, Gepäckablagen oder Türen für den Waggonbau. Die Präzisionsstahlrohre made in Lage fanden sich in Lenksäulen, Antriebswellen, Benzineinfüllstutzen oder Stoßdämpfern.

Zwischenzeitlich zählte das Unternehmen mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und gehörte zu den größten Arbeitgebern der Zuckerstadt. Und dabei auch ein sehr innovativer: Für den Volvo 164 wurde an der Gasstraße in den 1960er Jahren die erste teleskopierbare Sicherheitslenksäule entwickelt. Die erste, serienmäßig erstellte verstellbare Lenksäule folgte in den 1980er Jahren. Sie wurde im Ford Scorpio verbaut.

Die Globalisierung und ihre Zwänge 1989 wurde auf der anderen Seite der Gasstraße ein Entwicklungs- und Technologiezentrums errichtet. Aber es zogen bereits dunkle Wolken auf. Die immer weiter grassierende Globalisierung, insbesondere in der Automobilindustrie, machte es für Mittelständler schwer, an große Aufträge zu kommen. &bdquo;Die Industrie verlangte internationale Produktionsstätten, zum Beispiel in Asien, Nord- oder Südamerika. Die konnten wir als Reiche & Co. nicht so eben mal hochziehen“, erinnert sich Carl Reiche. Er trat Mitte 1992 als Geschäftsführer in das Unternehmen ein, das damals von seinem Vater Carl-Heinz Reiche geführt wurde. Bis 1980 hatte zudem sein Onkel Kurt Reiche eine bedeutende Rolle gespielt, er – Prokurist seit 1938 – war für Jahrzehnte für die kaufmännische Seite verantwortlich.

Wegen der weltweiten Vernetzung suchte Reiche & Co. ab Mitte der 1990er Jahre einen internationalen Partner – und fanden ihn in dem Multi Dura Automotive System aus Michigan/USA. Die Amis mit Tausenden Mitarbeitern weltweit übernahmen 2001 das komplette operative Geschäft von Reiche & Co. Das Unternehmen hieß fortan &bdquo;Dura Automotive Systems Reiche GmbH“.

Abschied von Lage Carl Reiche blieb bis Ende 2005 Geschäftsführer an der Gasstraße. Sein Vater starb 2009. Nach ihm ist das Carl-Heinz-Reiche-Stadion am Werreanger benannt – unter anderem wegen seiner Verdienste für den Leichtathletik-Sport in Lage.

Ab 2012 verlegte der Multi Dura die Produktion von Lage in die USA und in sein Werk in Einbeck (Niedersachsen). Drei Jahre später sollten an der Lagenser Gasstraße endgültig die Lichter ausgehen. Doch was tun mit dem 25.000 Quadratmeter großen Firmengelände? Nach Abriss der alten Produktionshallen und umfassender Bodensanierung wurde das Gelände neuen Nutzern zur Verfügung gestellt.

Aufgeteilt ist das ehemalige Betriebsgelände heute in fünf Parzellen. Genutzt werden drei davon: von einem Hersteller für Komponenten für Lüftungstechnik, von einem Kfz-Prüfzentrum und einem Vermieter von Garagen. &bdquo;Die beiden noch freien Parzellen sind ebenfalls verkauft“, sagt Carl Reiche. Deswegen ist die Reiche-Ära an der Gasstraße mittlerweile endgültig beendet.

Als die Autowelt aus der Lagenser Gasstraße beliefert wurde

Gasleitung, Hitze und Hühner: Das ist die Bilanz des Großeinsatzes der Lagenser Feuerwehr

Lebensgefahr: Darum ist die Suche nach der Brandursache in Lage so schwierig

Lagenser Rentnergang fährt auf dem Motorrad bis nach Griechenland

Als Lage ein Hotspot für Nationalsozialisten war

Die Stadt will kurzfristig das Haus des Gastes in Hörste final ausstatten

Förderverein Stadtbücherei Lage wird als Leuchtturmprojekt ausgezeichnet

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus!

0,99 Euro im ersten Monat

Weiterlesen mit LZplus