Bürgermeister Markus Baier zieht nach einem Jahr Zwischenbilanz

Lemgo . Markus Baier ist seit einem Jahr Lemgos Bürgermeister. Aber was war das für ein Jahr. Von Schonfrist keine Spur! Corona hat den gebürtigen Franken und vormaligen Baudirektor mit seinem Team im Rathaus in Atem gehalten.

Seit Amtsantritt sind Sie quasi ununterbrochen Krisenmanager. Ist das eigentlich das Bürgermeisteramt, das Sie sich bei der Nominierung als Kandidat, vor Corona, erhofft haben?

Markus Baier: Ich habe einen großen Vorteil: Ich kenne den Unterschied nicht. Als ich Bürgermeister wurde, waren wir schon mitten in der Pandemie.

Aber etwas fehlt doch unbestritten: Termine, bei denen man Kaninchen-Schauen eröffnen, rote Bänder durchschneiden oder verdienten Menschen Orden anheften darf.

Zunächst gab es das gar nicht, das stimmt. Im Sommer war da dann schon der ein oder andere Termin. Jüngst die Sternheimpreis-Verleihung, das Holocaust-Gedenken, 50 Jahre Engelbert-Kaempfer-Gesellschaft – das eine bewegend, das andere gesellig. Aber ja, in der Tat: Ich freue mich darauf, wenn es noch ein bisschen mehr wird.

Hauptsache, das gesellschaftliche Leben ist bis dahin nicht tot.

Die Gefahr sehe ich in der Tat in einem gewissen Maß. Die Gefahr, dass Solidarität in Müdigkeit umschlägt.

Was meinen Sie damit?

Wenn sich die Menschen daran gewöhnen, zu Hause zu bleiben, anstatt sich ehrenamtlich, in ihrem Verein oder wo auch immer zu engagieren. Aber ich setze darauf, dass der Mensch einfach ein soziales Wesen ist und bleibt – und sich immer wieder selbst motivieren kann. Alleine zu Hause ist es dann doch zu langweilig. Außerdem fördern wir weiter gezielt mit unserem Team das Ehrenamt, wollen aktivieren und guten Strukturen helfen. Das ist bei uns sogar ein sogenanntes strategisches Stadtziel.

Jetzt kommt &bdquo;2G" im Einzelhandel. Jahrelang rühmte sich Lemgo der tollen Innenstadt und seiner Kaufkraft, die hier hängen bleibt und die Kassen klingeln lässt. Wie bange sind Sie um die Stadt?

Ich sehe Kaufleute, die nicht resignieren, die vernünftig sind und mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Wer realistisch drauf schaut, sieht: Die Lage ist nicht ganz schlecht, klar haben auch wir verloren. Aber wir sind in einer guten Ausgangsposition, wenn die Aufholjagd beginnt.

Woran machen Sie das fest?

Durch das Leerstandsprogramm konnten wir sechs von neun Leerständen schnell wieder belegen. Eine gewisse Leerstandsquote gehört aber außerdem zum normalen Organismus des Kommens und Gehens. Die Mischung ist wichtig, und die stimmt nach wie vor. Dazu haben wir beim Wohnen eine lange anvisierte Marke geknackt.

Welche ist das?

3000 Menschen, die innerhalb der Wälle leben. Lange hat Lemgo da stagniert, jetzt hat es geklappt. Die Menschen gehören nämlich auch zu einer lebendigen Innenstadt, ebenso wie Kulturangebote, die wir mit unserem neuen Fonds stärken. Dazu dann Handel und Dienstleistungen – das ist für mich die richtige, lebendige Mischung. Denn Menschen ziehen Menschen an.

Was Außenstehende an Lemgo anziehend finden könnten, ist natürlich auch die niedrige Arbeitslosigkeit ...

Unbestritten. Auch hier hat Corona sicher die ein oder andere Branche schwer getroffen, aber in der Breite kommen die Wirtschaftshilfen des Staates gut an. Die Arbeitslosenquote in Lemgo ist immer noch praktisch so niedrig wie nie nach dem Krieg. Das ist natürlich ein Verdienst der guten Wirtschaftspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Dazu gehört ein Industriegebiet auf der grünen Wiese, das massig Jobs gebracht hat. Das wird es so aber vermutlich kein zweites Mal geben. Stichworte: Flächenverbrauch, Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung.

Das stimmt. Lieme wird man auf unserem Stadtgebiet nicht verdoppeln können, ohne interkommunale Zusammenarbeit geht also fast nichts mehr. Wir müssen in Zukunft deshalb sicher mehr auf Bestandspflege und Bestandsentwicklung gehen. Dazu kommt natürlich das Zukunftsfeld Innovation Campus, und alles, was drum herum passiert.

Da gibt es ja auch Kritiker, die nicht an die Erfolgsstory Innovation Campus glauben. Was sagen Sie denen?

Dass wir als kleine Stadt eine Nische brauchen, um uns gegenüber den großen Konkurrenten zu behaupten. Und wir haben diese Nische gefunden: Automatisierung. Sie ist ein Thema, egal, wo man in der Industrie hinschaut. Ob bei Verpackungen, Möbeln, Zahnbohrern, Elektronik, Lebensmitteln. Mit unserem übergreifenden Bildungsansatz – zusammen mit dem Handwerk, mit den Berufsschulen – finde ich das richtig gut. Und wir haben am Campus schon mehrere hundert hervorragende Arbeitsplätze dazu gewonnen – für Menschen und Familien, die hier in Lemgo eine wunderbare Lebensgrundlage und Heimat finden können.

Bei &bdquo;grünen" Themen gehen Sie einen etwas anderen Weg als Ihr Amtsvorgänger. Ist das die Angst vor der &bdquo;Rache" von &bdquo;Fridays for Future", wenn die Jugendlichen wählen dürfen?

Angst? Nein! Ich halte Nachhaltigkeit für ein wichtiges Thema, das ich in der Stadtverwaltung noch mal forciert habe. Das ist meine persönliche Überzeugung, und das nicht erst seit gestern – ich habe mich im Architekturstudium vor drei Jahrzehnten mit ökologischem Bauen beschäftigt und im Volkswirtschaftsstudium, sozusagen als Exot, meine Diplomarbeit über Biodiversität geschrieben, das sagt vielleicht ein bisschen was über mich aus. Im Übrigen knüpft das doch an unsere Hanse-Werte an: etwa nur die Schulden zu machen, mit denen ich etwas finanziere, das auch in 30 Jahren noch gebraucht wird.

Und was ist das?

Wenn ich auf Lemgo und die Gegenwart schaue, sicher der Hochwasserschutz an der Bega, den wir mit etwas sehr Schönem verbinden – dem Auenpark. Dann müssen wir ins Wohnen investieren, Lemgo ist attraktiv, daher brauchen wir Wohnungen und Bauplätze, aber bitte nicht einfach unbedacht in die Fläche. Das schafft dann durch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage soziale Nachhaltigkeit.

Wo muss Lemgo 2022 anpacken?

Wir haben weiter viel vor. Das Innenstadtprogramm und das Handlungskonzept Wohnen laufen – Stichwort: Tweten, Stiftstraße. Leader soll mit Leopoldshöhe und Lage zusammen neu aufgestellt werden für die Entwicklung der Ortsteile. Am Innovation Campus wird weiter gebaut und auch Fertiges eröffnet – etwa der Innovation Spin. Wohnprojekte werden umgesetzt, am Vogelsang, Pöstenweg, an der Südschule. Im Kulturbereich werden wir neue Formate erleben. Die Sanierung der Realschule soll über einen Wettbewerb vorbereitet werden. Wir werden weiter unsere Smart-City-Strategie mit Kalletal zusammen erarbeiten. Ich könnte noch mehr aufzählen – aber vor allem wollen wir 2022 in Lemgo gut und sicher leben und mal wieder Strohsemmelfest, Kläschen, TBV-Siege und Schützenfest feiern – ich freue mich drauf.

Persönlich:

Markus Baier (47) ist verheiratet und hat einen Sohn. Ohne Parteibuch war er als unabhängiger Bürgermeisterkandidat angetreten – und mit 53 Prozent im ersten Wahlgang gewählt worden. Der Architekt und Volkswirtschaftler stammt ursprünglich aus Franken.

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