Angst, Wut, Spaltung: Warum junge Lemgoer vor der Wahl den „Populismus-Cocktail“ mixen

Lemgo. Und plötzlich liegt die &bdquo;Solidarität“ am Boden. Die jungen Männer stöhnen enttäuscht auf. Den Baustein aus Holz, beklebt mit dem Begriff, hatte die Gruppe von angehenden Zerspanungstechnikern soeben in einem über bunte Bänder fein austarierten Prozess gemeinsam angehoben und auf die &bdquo;Gerechtigkeit“, die &bdquo;Freiheit“ und die &bdquo;Sicherheit“ gestapelt - bevor der sogenannte &bdquo;Tower of Power“ krachend in sich zusammenfiel. &bdquo;Tja, es hat niemand behauptet, dass es leicht wäre, zusammen die Demokratie aufzubauen“, sagt Lehrer Lennart Losch und lacht. Er lehrt unter anderem Politik und betreut diese Station der Wahl-Projektwoche am Lüttfeld-Berufskolleg. Es seien genau solche Momente, die dabei helfen würden, die Inhalte &bdquo;vom Kopf ins Herz“ zu transportieren, betont auch Daniel Jung, einer der Initiatoren. Inhalte wie: Demokratie bedeutet auch Gemeinschaft. Zusammenhalt. Respekt.

&bdquo;Was hat Demokratie mit mir zu tun?“ Diese Frage schwebt über allem. Jede Schülergruppe, die alle vier Stationen durchlaufen hat, geht am Ende ins Wahlbüro in der Aula. &bdquo;Etwa 500 bis 600 Schüler werden wir bis Freitag hier durchjagen’“, hofft Jung. Die Wahlzettel gleichen den regulären, sind allerdings blau, damit es am Ende keine Verwechslungen gibt. Die Ergebnisse dieser offiziellen Juniorwahl, die deutschlandweit an Schulen durchgeführt wird, werden am Sonntag parallel zur Bundestagswahl veröffentlicht.

Die Spaltung überwinden &bdquo;Wir haben an unserer Schule sehr viele Erstwählerinnen und Erstwähler“, erklärt Jung, was den Anstoß gab, die bereits zweite Projektwoche dieser Art umzusetzen. Es gehe darum, Wissenslücken aufzufüllen, allerdings nicht im Kern. &bdquo;Wir spüren die Spaltung der Gesellschaft sehr stark auch im Klassenzimmer“, sagt der Organisator. &bdquo;Alles wird bestimmt von: Ich habe recht, du hast unrecht.“ Die Projektwoche solle ein Gesprächsanlass sein. Vier Unterrichtsstunden sind dafür vorgesehen. &bdquo;Und in dieser geballten Zeit wird viel diskutiert“, berichtet die stellvertretende Schulleiterin Ines Fleck. &bdquo;Ein gutes Zeichen.“

Eine der vier Stationen behandelt das Thema Populismus. Anhand eines Experiments, bei dem die Schüler selbst als Teil einer erdachten Polit-Agentur solche verkürzten Botschaften formulieren sollen, werde deutlich, wie gefährlich sie sind. Ein Rezeptblatt gibt Tipps, wie ein guter &bdquo;Populismus-Cocktail“ zu mixen sei. &bdquo;Teile die Welt in, das Volk’ und &bdquo;die da oben“, lautet eine Anweisung, &bdquo;schüre Angst und Wut und definiere Sündenböcke“, eine andere. &bdquo;Mobilisiere durch emotionale Botschaften - je schlechter die Stimmung, umso besser für dich!“ Die Schüler suchen sich dann Fotos aus - ein Treck von Flüchtenden, eine &bdquo;perfekte“ blondhaarige Familie im Park - und texten selbst diese Slogans. &bdquo;Viele haben regelrecht Hemmungen, solche krassen Sprüche herauszuhauen“, erzählt Lehrer Jung. Das Gute sei, dass man dem Muster, sobald man es einmal durchschaut hat, nicht mehr ausgeliefert sei.

Das Berufskolleg sei eine wahrhaft internationale Schule mit einer &bdquo;unendlichen Anzahl“ von Herkunftsnationen, so Ines Fleck. Viele Schüler hätten aufgrund ihrer Hautfarbe bereits Rassismuserfahrungen gemacht. Andere bringen verstörende Geschichten aus ihren Heimatländern mit, die im Rahmen einer solchen Projektwoche erstmals Raum fänden, erzählt Jung - und die einem die eigenen Privilegien in Deutschland bewusst machten: &bdquo;Zugang zu ärztlicher Versorgung, unabhängige Gerichte, all so etwas“, gibt er Beispiele.

Bei einer Station wird zu diesem Thema auch ein &bdquo;Diversity Walk“ umgesetzt. Dabei starten alle Teilnehmer an derselben Linie im Raum und gehen einen Schritt vor, wenn sie eine bestimmte Erfahrung gemacht oder ein bestimmtes Privileg genossen haben. Bei der Projektwoche geht es um Letztere, und jeder Schüler bekommt einen Zettel mit einer &bdquo;Identität“, die er oder sie annimmt - um sich in andere Schicksale hineinzuversetzen. So wird der eine zur &bdquo;33-jährigen Reinigungskraft russischer Herkunft“, die andere zum &bdquo;16-jährigen Geflüchteten aus Syrien“. &bdquo;Es ist sehr bewegend, wenn eine geflüchtete Person am Ende noch am Startpunkt steht, während der weiße, in Deutschland geborene Mann aufgrund seiner Vorteile ganz vorne angekommen ist“, sagt Jung. Dass wir in einer Gesellschaft zusammenleben, jedoch völlig unterschiedliche Lebensrealitäten haben können - diese Erkenntnis sei ein wichtiger Schritt zu mehr Solidarität und Respekt.

Der spielerische Ansatz der Projektwoche kommt gut an. &bdquo;Man merkt, dass man nur gemeinsam vorankommt und es gut ist, zusammenzuarbeiten“, zieht David Janzen ein positives Fazit. Der 19-Jährige hat sich auch vor der Projektwoche schon politisch informiert, fühlt sich jetzt für die Wahl jedoch noch besser gewappnet. &bdquo;Mit dem, was die Parteien genau wollen, hatte ich mich noch nicht auseinandergesetzt“, räumt Mitschüler Jonas Frimann ein. Und selbst wenn die Wahlentscheidung keine leichte sei: Die Freiheit zu wählen wollen sie in jedem Fall wahrnehmen. Jetzt gleich in der Schulaula - und am Sonntag im &bdquo;echten“ Wahlbüro.

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Transparenzhinweis : In einer früheren Version war an einer Stelle vom &bdquo;Hanse-Berufskolleg“ die Rede - es handelt sich allerdings um das Lüttfeld-Berufskolleg.

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