Wer ist „Bommel“? Lemgoer sorgt mit „Protestcamp“ am Steinstoß für Aufsehen

Lemgo. Verwaist wirkt der Platz nach all den Wochen, die es hier für Passanten und Autofahrer fast jeden Tag etwas Neues zu sehen gab. Arrangements aus Sperrmüll, die wie eine Kunstinstallation wirken konnten. Dazu Musik. Ein Grill. Eine immer wieder andere Dekoration der Schaufenster. Beinahe trostlos kommt die Ecke dagegen jetzt daher, auch ohne die Grablichter, die hier zwischenzeitlich noch brannten. Und damit so, wie vor dem Camp, das den Sommer über Bestand hatte.

Ende der Toleranz Viktor Bowel hat seine vorübergehende Bleibe hier vor Kurzem aufgegeben. Aufgeben müssen, erklärt er. Eines Tages Anfang November habe die Polizei vor ihm gestanden. Jetzt sei Schluss, hätten die Beamten ihm bedeutet. Damit endete eine längere Phase der Toleranz, die einige Beobachter ohnehin verwunderte .

Denn &bdquo;Bommel“, wie der 37-jährige Lemgoer von vielen genannt wird, sorgte zweifellos auch für Unmut. &bdquo;Das eine oder andere Mal war ich zu laut, hatte zu gute Laune, oder habe da Flaschen kaputt geworfen aus Frust - die ich dann aber wieder weggeräumt habe“, berichtet Bowel und lächelt. Tatsächlich war er vor Ort häufig mit einem Besen zu sehen, hielt den Bereich - je nach Tagesform - in Schuss.

&bdquo;Wohne bei meiner Mama“ Auch habe er, gastfreundlich wie er sei, immer wieder Gäste bewirtet, die zum Teil jedoch eigene Drogenprobleme mitbrachten, die &bdquo;auf Pillen sind, Tilidin, Ritalin, die ganzen Namen kenne ich gar nicht“ - und deren Stimmung dann kippen konnte. Mehrfach, räumt er ein, wurde auch er selbst zum Ausnüchtern von der Polizei abgeholt.

&bdquo;Ich bin ein friedfertiger Mensch, mein Geduldsfaden, der ist schon ok. Aber zu viel Alkohol macht jeden aggressiv.“ Wegen Körperverletzung sei er noch nie belangt worden, doch sein absoluter Tiefpunkt sei eine schwere Brandstiftung gewesen: Er zündete Ende 2024 &bdquo;im Suff“ mit 2,9 Promille ein Auto an. Dafür drohen ihm drei Jahre Gefängnis, denn die Bewährung ist, falls seine Aktionen am Steinstoß Anzeigen nach sich ziehen, vermutlich passé.

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Von vielen für einen Obdachlosen gehalten, ist er das streng genommen nicht. Zum Gespräch mit der LZ lädt er an seine Meldeadresse ganz in der Nähe: &bdquo;Ich wohne bei meiner Mama.“ Das sei für ihn jedoch kein Zuhause, &bdquo;eher eine Notunterkunft“. Er habe dort keinen Schlüssel und keine Privatsphäre, könne keinen Besuch empfangen. Seine Mutter wirkt von der Situation überfordert, was bereits in einem zeitweiligen Hausverbot mündete. Bowels größter Wunsch wäre eine eigene Wohnung. Doch das sei in seiner Lage utopisch. Stattdessen landete er bereits in der Notunterkunft und in der Psychiatrie.

Als Kind aus Kasachstan gekommen Ziel seines Camps: Er hätte gern Hausrecht bekommen in dem Gebäude samt Werkstatt am Steinstoß, das - genau wie das Mehrparteien-Wohnhaus nebenan - seit vielen Jahren leer steht. &bdquo;Ein Haus, das leer steht, ist wie ein Auto, das nicht gefahren wird - es steht sich kaputt“, erklärt &bdquo;Bommel“, der eine Lehre als Kfz-Mechatroniker abgeschlossen hat, danach jedoch keine Stelle bekam, weil er den Führerschein verloren hatte.

Auch damals schon hatte er, der als Sechsjähriger mit Eltern und Geschwistern aus Kasachstan kam, Probleme mit dem Alkohol. Als Grundschüler sei er als &bdquo;Ausländer“ gemobbt worden, &bdquo;da gab es das Wort Mobbing noch gar nicht“. Der Rassismus sitze in Deutschland tief.

Ein Schicksalsschlag Keine Freunde, viele Probleme, mit Mitte 20 dann ein Schicksalsschlag, der ihm den Sinn im Leben genommen habe: Seine Partnerin verlor das gemeinsame Kind im fünften Monat, die Beziehung zerbrach. &bdquo;Da habe ich die Kontrolle verloren. Da war mir echt alles egal. Da ist meine Welt zerbrochen.“

Kurzzeitig, berichtet er, sei er in das Gebäude am Steinstoß auch eingedrungen, weshalb ihm eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs drohe. &bdquo;Mein Wunsch wäre es, dass man das Haus wieder bewohnbar macht. Dort könnte man zig Sachen umsetzen, zum Beispiel eine Notunterkunft oder eine Selbsthilfe-Werkstatt, das fände ich sinnvoll“, überlegt er. &bdquo;Denn welcher normale Mensch kann sich heute noch eine Werkstatt-Stunde leisten?“

Die Politik, findet er, sollte an die Eigentümer herantreten. &bdquo;Eigentum verpflichtet, habe ich mal gehört. Bis zur Enteignung sollte das gehen. Es kann nicht sein, dass jemand, nur weil er Geld hat, fünf Häuser verkommen lässt.“

Auf TikTok präsent An einem Wahlkampf-Stand des Bürgermeisters in der Mittelstraße habe er das Thema angesprochen. Markus Baier habe zugesagt, sich kümmern zu wollen; ihm selbst sei der Leerstand ein Dorn im Auge. Auf &bdquo;Bommels“ TikTok-Kanal existiert ein kurzes Video dieses Zusammentreffens. Mehr als 3000 Follower habe er auf dem Sozialen Netzwerk zwischenzeitlich gehabt, doch sein Account sei immer wieder gesperrt worden. Seine Präsenz dort erkläre aber wohl, warum vor allem so viele Jugendliche ihn kennen würden. &bdquo;Bommel, warum bist du weg?“ Das würde ihm öfter hinterhergerufen.

Bowel schenkt Kaffee ein. Ein Futternapf deutet auf seinen Kater hin, auf dem Küchentisch liegt ein Stapel an ihn adressierter Briefe. &bdquo;Der von meiner Bewährungshelferin ist vom 4. November, den habe ich heute erst aufgemacht.“ Einen Termin hat er in der Zwischenzeit verpasst. &bdquo;Mit Briefen habe ich es nicht so. Bürokratie ist absolut nicht mein Milieu.“ Oft habe er sich den Behörden gegenüber hilf- und machtlos gefühlt.

Entgiftung reicht nicht Wenn Bowel von sich erzählt, dann mit Humor. Er beantwortet jede Frage, betrachtet seine Situation schonungslos, auch seine Abhängigkeit und die damit einhergehenden Probleme. Einen Entzug habe er schon häufiger durchgestanden, doch stets ohne eine Langzeittherapie im Anschluss. &bdquo;Und das bringt nichts, wenn man nur eine Entgiftung macht und dann keine Lösungswege für Probleme hat. Meist ist es ja so, dass wenn man niedergeschlagen ist, es halt verdrängen will. Und dafür braucht man andere Bewältigungsstrategien.“

Zurück zur Räumung Anfang November. Die Besitzerin des leer stehenden Hauses am Steinstoß Nummer 1 habe sich wohl gemeldet und gefordert, dem Treiben sei nun ein Ende zu machen. Er kam der Aufforderung, den Platz zu räumen, nach. &bdquo;Es war schwierig, alles auf einmal wegzuschaffen“, erzählt er, immerhin hatte er über Wochen Dinge angesammelt, die andere nicht mehr brauchten. &bdquo;Also hab ich bei unserem lieben Bürgermeister angerufen. Seine Sekretärin hat sich mein Anliegen angehört. Ich hab gesagt, ich möchte auf kurzem Dienstweg Sperrmüll beantragen.“

Raketenangriff im Oktober Keine Stunde später sei ein Auto von der Stadt am Steinstoß angekommen. &bdquo;Der Herr hat mich gefragt, wann ich aufstehe. Ich sage: 8 Uhr ist top.“ Am nächsten Morgen sei dann &bdquo;rucki-zucki“ alles auf den Wagen geschmissen worden. &bdquo;Die Sachen, die ich retten wollte, habe ich nach und nach abgeholt.“

Ohnehin hätte er aufgrund der Kälte wohl nicht mehr lange draußen durchgehalten, sagt er. Nach dem Angriff mit einem Feuerwerkskörper im Oktober , bei dem er nur durch Glück nicht verletzt wurde, habe er sich außerdem noch unsicherer gefühlt als zuvor. &bdquo;Ich konnte da ja keine Tür zumachen.“ Angst im eigentlichen Sinne habe er jedoch nicht verspürt: &bdquo;Ich habe Gottvertrauen. Und mehr als mein Leben können sie mir nicht nehmen.“ Getauft sei er nicht, doch das würde er nach einer Therapie gern nachholen.

&bdquo;Am schlimmsten sind die Blicke“ Was ist sein Resümee nach den Monaten am Steinstoß? Manche Menschen, sagt er, seien hilfsbereit gewesen. Hätten ihm Kleidung gebracht, auch Lebensmittel, und ein Herr hätte stets bei der Arbeit seine Powerbank für ihn aufgeladen. Doch er spricht auch von tätlichen Angriffen, Beleidigungen, von Herabwürdigung. &bdquo;Der Umgang mit den Menschen, die unten sind, ist schrecklich. Am schlimmsten sind diese Blicke. Dieses von oben herab runtergucken auf ,den Penner’, diesen Schandfleck. Das will ja keiner sehen.“

Er hoffe, dass er &bdquo;einigen die Augen geöffnet oder sie zumindest zum Nachdenken“ bewegt habe. Auch, indem er die soziale Ungleichheit sichtbar machte. Gleichwohl: &bdquo;Bommel stellt den Protest hiermit offiziell ein“, erklärt er. &bdquo;Mir ist meine Freiheit wichtiger, und meine Gesundheit auch.“

Er wolle mit seiner Bewährungshelferin nun &bdquo;den Karren aus dem Dreck ziehen“, vor Gericht erscheinen, Entzug und Therapie absolvieren. Die weiteren Etappen seien dann Wohnung, Job und Führerschein. &bdquo;Einen Satz könnten Sie notieren“, sagt er zum Abschied. &bdquo;Wenn wir in unserem Wirkungsbereich das Umfeld verbessern, geht es uns allen gut.“ Wir könnten nicht die ganze Welt verändern. &bdquo;Aber wir können uns entscheiden, nicht wegzusehen. Zum Beispiel dem Obdachlosen ein Brötchen geben oder einen Kaffee. Einfach dafür sorgen, dass es den Menschen um einen herum gut geht“, sagt Bowel. &bdquo;Und wenn das jeder machen würde, dann würde die Welt echt anders aussehen.“

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