Besteht nicht die "Gefahr", dass Sie beim Lesen als Autor Ideen, Szenen oder Charaktere übernehmen und in eigenen Büchern verarbeiten?
Müller: Das muss man nicht verhindern. Es ist illusorisch, zu glauben, man könne eine völlig neue Geschichte erfinden. Wir stehen doch auf den Schultern der Autoren, die vor uns waren. Ich habe nur den Anspruch, eine gute Geschichte zu entwickeln und sie zu erzählen – mit meinen Worten.
Sie haben Geschichte studiert und schreiben historische Bücher. Was fasziniert Sie an der Vergangenheit?
Müller: Das Historische öffnet mir die Augen für meine Welt heute: Ich muss kein Feuerholz sammeln, nicht zum Brunnen laufen und Wassereimer schleppen. So wird mir bewusst, in welchem Luxus ich heute lebe. Mir imponiert auch, mit welcher Verzweiflung und Hingabe man früher nach dem Richtigen, Wahren gesucht hat. Wir tun das heute nicht mehr. Ich glaube, dass uns der Luxus, in dem wir leben, für vieles blind macht. Es muss aber nicht immer beim Historischen bleiben. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich mal ein Buch aus einem anderen Genre schreibe.
In Ihrem neuen Roman, aus dem Sie auch in Leopoldshöhe vorlesen, kommen die Jesuiten nicht sehr gut weg...
Müller: Damit will ich nicht schmälern, was Mönche, Priester und christlich geprägte Menschen über Jahrhunderte an Gutem getan haben. Was ich darstelle und kritisiere, war die Macht des Ordens und sein Anteil am Kampf um Gebiete, Anhänger und politischen Einfluss der Kirche. Ich denke, es sollte für Gläubige nicht darum gehen, wer der Stärkste ist, sondern darum, wer sich um die Schwachen kümmert. Liebe sollte die zentrale Kraft sein. Aber wir Menschen stellen immer wieder Ehrgeiz, Elitedenken und Macht vorne an. Ich verurteile die Jesuiten nicht pauschal. Im Roman wird auch deutlich, dass sie in den Bereichen Forschung und Lehre Großes geleistet haben.