Lügde-Haupttäter hätte schon vor 2002 gestoppt werden können

Düsseldorf/Lügde. Im September 2019 wurde Andreas V. wegen 290 Missbrauchsfällen zu 13 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er gilt als einer der beiden Haupttäter im Missbrauchskomplex von Lügde. Und er hätte bereits 20 Jahre früher gestoppt werden können. Das legen neue Hinweise aus einer Akte nahe, die den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses im Landtag seit wenigen Tagen vorliegt. Ausschnitte liegen nw.de vor.

Aus der Akte des Versorgungsamtes Köln geht hervor, dass dieses, wie auch das Jugendamt der Stadt Radevormwald und das Familiengericht (Amtsgericht Wipperfürth), seit 2001 wussten, dass Andreas V. ein Kind gezwungen hatte, es sexuell zu befriedigen.

Es handelt sich um ein damals vier Jahre altes Mädchen, das bereits 1997/98 Ferien auf dem Campingplatz in Lügde verbracht hatte und zum dort wohnenden Andreas V. Kontakt hatte. Er war bei Kindern sehr beliebt, da er mit ihnen Ausflüge und Nachtwanderungen machte. Sie nannten ihn &bdquo;Addy". Nach einem Besuch bei ihm habe das Mädchen der Mutter gesagt: &bdquo;Penis lecken schmeckt nicht".

Die zunächst fassungslosen Eltern vermuteten, dass es sich bei dem Täter um Andreas V. handeln müsse, sie beobachteten ihn, warnten andere Eltern und hielten ihre Tochter von ihm fern. Sie sprachen den Sohn des Campingplatzbetreibers darauf an, der entgegnete, dass er sich das nicht vorstellen könne.

Strafverfahren im Jahr 2002 2000 kommt der Fall wieder auf, da die Mutter Anzeige gegen ihren Ehemann erstattet – wegen des Verdachts, die eigene Tochter zu missbrauchen. In dieser Anzeige schildert sie auch ausdrücklich den Hinweis ihrer Tochter aus 1997/98 – und verweist auf Andreas V. als möglichen Täter sowie den Ort des Vorfalls, den Campingplatz. Dem Hinweis geht die Staatsanwaltschaft nicht nach, sondern nur dem Verdacht gegen den Ehemann, also dem Vater des Mädchens.

Zwei Jahre später, inzwischen ist er selbst angeklagt, schildert auch der Mann der Polizei den Fall, welche die Informationen an das Landeskriminalamt (LKA) NRW schickt. Dort wird ein Strafverfahren eingeleitet, vermutlich werden die Informationen auch an die Staatsanwaltschaft Detmold weitergeleitet. Unklar bleibt aber, ob ermittelt wird.

Warum stellte die Staatsanwaltschaft Detmold das Verfahren ein? Das Verfahren stellt die Staatsanwaltschaft Detmold nach zwei Jahren ein. Warum? Auch das bleibt unklar, da bis heute keine Akte zu dem Fall auffindbar ist. In einem Bericht des Justizministeriums von 2019 heißt es, dass im Keller der Staatsanwaltschaft Detmold zur besagten Akte &bdquo;keine Vorgänge zu finden" seien.

Der Fall scheint vollends in Vergessenheit zu geraten - bis zum Jahr 2019. Eine Polizeibeamtin aus Lippe sieht im Büro einer Kollegin den Aktendeckel mit dem Namen von Andreas V. und erinnert sich an den Vorwurf aus dem Jahr 1997/98. Sie recherchiert und findet in einer Excel-Datei den entsprechenden Hinweis. Die Polizeibeamtin beauftragt daraufhin zwei Kollegen, die inzwischen 25-jährige junge Frau nach dem Vorfall aus 1997/98 zu befragen. Die junge Frau bestätigt den Fall.

So kommt es, dass Andreas V. letztlich auch für diesen mehr als 20 Jahre alten Vorfall angeklagt und verurteilt wird. Spätestens 2016 hätte der Fall bei der Polizei Lippe nach mehreren Hinweisen neu in Erinnerung treten können.

"Jedes Puzzleteil ist wichtig" Vom Verdacht gegen Andreas V. und dem Fall aus 1997/98 hatten letztlich zehn Behörden und Gesundheitseinrichtungen Kenntnis. Ermittlungen gab es erst 2002 - die dann nicht weiter verfolgt wurden. &bdquo;Einmal mehr zeigt sich in diesen furchtbaren Missbrauchsfällen: Pädophile Straftäter erscheinen nicht auf einmal auf der Bildfläche. Sie treiben ihr Unwesen verdeckt und über lange Zeiträume in dunklen Hintergründen", sagt Andreas Bialas.

Umso wichtiger sei es, dass auch bei allen noch so kleinen Anzeichen &bdquo;sofort die Alarmglocken angehen" und Hinweise "konsequent verfolgt werden". Jedes Puzzleteil sei dabei wichtig, um so schnell wie möglich ein Gesamtbild zu bekommen, so Bialas. "Die Verbesserung der behördlichen Zusammenarbeit und der vernetzten Ermittlung sei dafür unabdingbar."

Was bei konsequenter Verfolgung hätte verhindert werden können CDU-Obmann Dietmar Panske spricht von einer "klaren Fehlentscheidung", die in Lippe getroffen wurde. Möglicherweise hätte der Täter schon damals als "Pädokrimineller identifiziert werden können", so Panske. Marc Lürbke (FDP) schlussfolgert daraus, dass entschieden sensibler und entschlossener mit sexualisiertem Kindesmissbrauch umgegangen werden muss. Der vorliegende Fall zeige, dass schon damals Hinweise des Opfers weitestgehend ignoriert wurden.

Damit reihe sich auch dieser Fall leider in eine mittlerweile sehr lange Kette von mangelhaftem Informationsaustausch zwischen Behörden ein. "Wäre der Fall bei der Polizei in Lippe früher bekannt gewesen, hätte das Leid der Opfer unter Umständen schon einige Jahre eher beendet werden können", so Lürbke.

Und: Wenn das Verfahren von 2002 früher bekannt gewesen wäre, hätte Andreas V. wohl kaum die Pflegschaft für ein Pflegekind bekommen können. Bekanntlich war das Mädchen, das im Untersuchungsausschuss nur unter dem Pseudonym Ramona Böker geführt wird, eines der Hauptopfer von Andreas V.

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