Oerlinghausen. Es war eine wilde Zeit damals, Ende 1918. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren, der Kaiser musste abdanken und die Soldaten kehrten vielfach verwundet und traumatisiert zurück. Revolution und Chaos drohten auch im Fürstentum Lippe, das öffentliche Leben lahmzulegen. Denn als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 in Berlin die Republik ausrief, hatte sich der lippische Fürst mit 50 Soldaten und vier Maschinengewehren auf sein Jagdschloss Lopshorn zurückgezogen. Es floss zum Glück kein Blut, der Fürst kehrte zurück nach Detmold, doch überall gingen die Bürger auf die Straßen.
Eine bedeutende Menschenmenge zog auch in Oerlinghausen am Abend des 10.November auf den Marktplatz, dort wo heute die Sparkasse liegt, um zu erfahren, wie es mit der Dorfschaft nach dem Ende der Monarchie weitergehe. Es gab Forderungen, einen Bürger- und Soldatenrat zu bilden. Ein Name wurde immer wieder gerufen, so heißt es in der Stadtchronik, der die Initiative ergreifen solle: Albert Schütte.
„Albert Schütte wurde aufgefordert, zu den Ereignissen zu sprechen", schreibt sein späterer politischer Weggefährte August Reuter in der Chronik. „Er sprach hier zum ersten Mal zu einer großen Bürgerschar und er konnte es – zu seiner eigenen Überraschung. An diesem entscheidenden Novemberabend 1918 wusste er die Menge zu überzeugen."
Schütte konnte die Rufer nach Revolution besänftigen und die Situation klären. Man verständigte sich auf die Bildung eines Volks- und Soldatenrates, und Albert Schütte übernahm die Leitung. Seine flammende Rede für Demokratie, Recht und Ordnung zählte wohl zu den Sternstunden der Gemeinde.
Anhänger der SPD
Aber wer war Albert Schütte, dem man spontan zutraute, die Wogen in den Nachkriegswirren zu glätten? Albert Schütte wurde 1885 als Sohn einer Tabakarbeiterfamilie in Oerlinghausen geboren. Schon als Schuljunge zog man ihn in der „Zigarrenbude" seines Vaters zum „Abschruppen" des Tabaks von den Stängeln heran. Eine staubige und ungesunde Arbeit. Aber Sohn Albert galt bereits früh als kluger Kopf. In den engen Fabrikräumen stellte man ihn immer wieder für einige Stunden frei, damit er den Arbeitern aus den damaligen sozialdemokratischen Zeitungen, dem „Vorwärts" oder der Bielefelder „Volkswacht", vorlesen konnte. So wurde er schon in jungen Jahren – wie viele seiner Kollegen – ein großer Anhänger der SPD. Er war schnell von Begriff, erlernte als Lehrling perfekt die Stenografie und gründete bald den Oerlinghauser Verein für Gabelsberger Stenografie. Wohl auch, um seinen Altersgenossen eine Aufstiegsmöglichkeit aus der Handwerksarbeit zu bieten.
Im Jahre 1911 machte sich Albert Schütte mit einer eigenen Zigarrenmanufaktur selbstständig, vorerst behelfsmäßig im Hause seines Vetters unter der Howe. Aber nur zwei Jahre später mietete er leerstehende Räume des Hauses Elmendorf, Detmolder Straße 13, an. Bei Kriegsausbruch 1914 beschäftigte er acht Leute.
Doch der Erste Weltkrieg schuf neue Verhältnisse. Überall in Oerlinghausen wurden Häuser beschlagnahmt, um dort die Soldaten des 145. Infanterieregiments unterzubringen. Schütte siedelte in kleinere Räume an der Hermannstraße hinter dem heutigen Stadthotel über.
Im Jahr 1917 zog man ihn trotz eines Augenleidens kurzfristig noch zur Armee ein. Nach dem Krieg, als die Übergangszeit der Soldatenräte vorbei war und als in Lippe ein erstes demokratisches Parlament gebildet wurde, wählte man ihn für die SPD in den lippischen Landtag. Zusammen übrigens mit dem berühmten Präsidenten Heinrich Drake und auch mit der Oerlinghauser Wäschenäherin Auguste Bracht.
Zugleich bestimmten ihn die Oerlinghauser als Fraktionsvorsitzenden in den Gemeinderat, und er übernahm als Stellvertreter des Bürgermeisters August Reuter sofort Verantwortung. August Reuter schreibt später: „Albert Schütte wurde mein engster Mitarbeiter und ein stets aufrichtiger bester Freund."
Ein ganzes Dorf trauert
Die erfolgreiche Entwicklung Oerlinghausens in der Weimarer Republik ist eng mit den Namen August Reuter und Albert Schütte verbunden. Unter ihrer Regie kaufte die Gemeinde die Beckersche Brauerei und weitere Gebäude auf, um dort Wohnraum für Familien zu schaffen, neue Baugebiete wurden erschlossen. Am Landerweg Richtung Schopke entstand sogar Oerlinghausens erstes Vogelschutzgehölz.
Bis zu den letzten freien Wahlen Anfang 1933 saß Albert Schütte im Stadtrat, er hielt immer wieder öffentliche Reden für seine Partei und oftmals gegen die Nazis und ihre braunen Schlägertrupps. Doch mit der Machtergreifung der NSDAP war Schluss. Mit viel Glück entkam er den Verhaftungswellen. Gute Freunde, darunter auch der lippische Abgeordnete Max Staerke, besorgten ihm und seiner Familie ein neues Zuhause in Heidenoldendorf, wo er sich nicht mehr öffentlich betätigen durfte. Mehr schlecht als recht schlug sich die Familie mit Zigarrenherstellung und Arbeit in einer Kantine durch.
Erst nach Kriegsende 1945 konnte Albert Schütte wieder eine politische Tätigkeit aufnehmen. Denn auch in Heidenoldendorf kannte man seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und wählte ihn zum Bürgermeister. „Seine größte Aufgabe bildete die Unterbringung der vielen Nachkriegsflüchtlinge", sagt heute seine Enkelin Erika Sievert, die früher mit ihrem Mann das Landhaus Sievert betrieb, über ihn. Aber auch das meisterte Schütte offenbar mit großem Geschick. Als er im Juni 1953 einem Krebsleiden erlag, titelte die Lippische Landes-Zeitung: „Ein ganzes Dorf trauert."