Schieder-Schwalenberg/Lothe. Sommer 1984: In den deutschen Charts rangiert „Send Me an Angel“ von „Real Life“ an der Spitze. Das Publikum, das sich im Jugendkeller in Lothe drängt, kann mit seichtem Pop aber nichts anfangen. Gespannt warten rund 140 zahlende Gäste auf härtere Töne, gespielt von einer Band, deren Konzerte heute bis 75.000 Besucher anziehen. Zum 40. Mal jährte sich in dieser Woche das legendäre Konzert der „Toten Hosen“ in dem 1000-Seelen-Ort. Thomas Bauer (63), damals Augen- und Ohrenzeuge, ging den Spuren des Gastspiels nach – und seinen Nachwirkungen.

Der 3. Juni 1984 ist ein milder Sommertag – und ein Sonntag. Nicht der beste Termin für einen Konzertbesuch: Am nächsten Morgen harren Schule, Ausbildung oder Arbeit der Jugendlichen, die in der Schlange vor der Kellertreppe der „Alten Schule“ auf den Einlass warten. Wie kommt eine Punkband aus Düsseldorf, die zu dieser Zeit nur eine Handvoll Fans hat, in die ostwestfälische Provinz? Für die Antwort ist ein Blick ins Vorjahr notwendig, denn noch weniger bekannt als der „Hosen“-Auftritt von 1984 ist die Tatsache, dass der nicht der erste der Punkpioniere in Lothe war.
Bei den „Hosen“ auf den Anrufbeantworter gesprochen
„Die Hosen haben 1982 ihre ersten beiden Singles veröffentlicht. Auf einer davon stand die Telefonnummer der Band“ erinnert sich Ralf Osterholz. „Ich habe auf den Anrufbeantworter gesprochen und ein paar Tage später rief tatsächlich der Manager zurück“, so der Wahlberliner. Er gehörte zu einer kleinen Punk-Szene, die sich in Bergheim und Vinsebeck entwickelt hatte, von dort nach Steinheim und schließlich ins nur wenige Kilometer entfernte Lothe hinüberschwappte.

Die personelle „Brücke“ nach Lippe bildete insbesondere ein Steinheimer, der trotz seiner westfälischen Herkunft das Vertrauen der Gleichaltrigen im Nachbarort genoss: Antonius Düwel, in Abwandlung seines Vornamens bis heute N-te genannt, war1982 zum Vorsitzenden des Jugendkreises Lothe gewählt worden. Diese Funktion brachte einen immensen logistischen Vorteil mit sich: Die Verfügungsgewalt über den Jugendkeller. Aus dem nur etwa 80 Quadratmeter großen Raum machen N-te und seine Mitstreiter in den nächsten Jahren eine kleine Hochburg des Punks in Ostwestfalen.
400 Mark Gage für den Auftritt
Aus dem Erstkontakt mit den „Toten Hosen“ entwickelt sich nach weiteren Gesprächen - die Osterholz in der Prä-Handy-Ära teils aus Telefonzellen führt - die konkrete Idee für ein Konzert. Allerdings scheuen die Möchtegern-Eventmanager zunächst das Risiko. Kann der Auftritt die verlangte Gage – nach der Erinnerung von Düwel 400 DM – einspielen? „Die ’Tote Hosen’ kannte ja niemand und es war völlig unklar, wie viele Besucher kommen würden“, blickt der 60-jährige N-te zurück. In den Jugendkeller passten maximal 150 Personen - „das aber nur gestapelt“, so Düwel über das Vorhaben, das heute kein Ordnungsamt mehr genehmigen würde. Zu guter Letzt stimmt das Orga-Team dem Vertrag zu - und die Rechnung geht auf.

Am 19. Februar 1983, einem Samstag, treffen die „Toten Hosen“ zu ihrem ersten Gastspiel in Lothe ein. „Ihr lebt in einer schönen Gegend“, lobt Sänger Campino bei der Ankunft. Lothe reiht sich an diesem Wochenende ein in eine Liste namhafter Städte wie Berlin, Hannover, Dortmund, Freiburg, Stuttgart, Hamburg und Bremen – alles vorherige oder folgende Spielorte der Tournee, die den Titel trägt „Roswitha kommt nicht, aber die Toten Hosen“.
Ein Stück Musikgeschichte im Lother Jugendkeller
Auch ohne Roswitha zieht es rund 130 Besucher nach Lothe, die je drei Mark Eintritt zahlen. Zusammen mit einem kleinen Erlös aus dem Getränkeverkauf deckt das die Kosten. Plakate oder sonstige Werbemaßnahmen hatte es nicht gegeben, die Vermarktung war allein über persönliche Kontakte gelaufen. Auch Tickets, die die Besucher als Erinnerungsstück hätten aufheben können, wurden nicht gedruckt: „Der Gummistempel des Jugendkreises auf dem Handrücken musste reichen“, grinst N-te.
Die wenigsten Besucher dürften geahnt haben, dass sie in dem stickigen, überhitzten Keller ein Stück Musikgeschichte miterlebten: Nicht ein einziges Foto des Gigs ist bis heute aufgetaucht - vermutlich hat niemand eines gemacht. Etwa 14 Stücke spielen die Düsseldorfer – einige davon mehrfach, denn größer ist ihr Repertoire nicht und für die Zugabe beginnen sie einfach von vorn. Dem Publikum, vollauf damit beschäftigt, die Lautstärke und den aggressiven „Pogo“-Tanz heil zu überstehen, ist es egal.
Weit- und Hochschaukelwettbewerb mit Campino und Co.
Ein gutes halbes Jahr nach dem Lothe-Gig, im September 1983, bringen die „Toten Hosen“ mit „Opel-Gang“ ihr Debütalbum auf den Markt und es gibt erste Anzeichen einer Professionalisierung. Letztere bekommt auch die Lothe-Clique zu spüren: Statt mit einem Ford Transit rückt die Band nun mit einem 3,5-Tonner an. Der zwischenzeitlich eingestellte Veranstaltungstechniker lässt sich den Jugendkeller zeigen, freut sich über den großzügigen Garderobenbereich, für den er diesen irrtümlich hält und fragt dann nach dem eigentlichen Konzertbereich. Ihren speziellen Humor haben die „Hosen“ allerdings nicht verloren: So gehört zu den Vertragsklauseln ein Fußballspiel vor dem Konzert. Dieses findet – auf dem örtlichen Sportplatz – auch tatsächlich statt, mit deutlichem Ausgang: „Wir haben 5 zu 1 gegen die Jungs verloren“, seufzt Antonius Düwel.

Es kommt noch schlimmer: Beim alkoholumwehten Weit- und Hochschaukel-Wettwerb auf dem Spielplatz an der „Alten Schule“ machen die Veranstalter wiederum keine gute Figur und sind danach kaum noch in der Lage, ihren Orga-Pflichten nachzukommen. Thomas „Berti“ Bertram aus Lothe hält die Düsseldorfer von weiteren Schnapsideen ab, indem er seine Eltern Schnittchen für alle Beteiligten schmieren lässt.
Heimische Hobby-Musiker freunden sich mit der Band an
In der Zuschauerzahl schlägt sich der langsam steigende Bekanntheitsgrad der Band nicht nieder: Es seien vielleicht zehn Leute mehr gekommen als beim ersten Konzert, überwiegend die Talentscouts anderer Veranstaltungsorte, schätzt N-te. Tatsächlich tauchen die „Toten Hosen“ in den kommenden Jahren immer häufiger in Clubs und Jugendzentren der Umgebung auf, so in Detmold, Höxter, Bielefeld und Paderborn. Umgekehrt machen N-te & Co. ihren Jugendkeller zu einer überregional bekannten Location. Hier spielen damalige Szene-Größen wie „Notdurft“ aus Bielefeld, „Neurotic Arseholes“ aus Minden oder „Vicious Circle“ aus Italien.
Für N-te und seine Bandkollegen von „Ackerbau & Viehzucht“ sind die beiden Lothe-Konzerte der Auftakt einer langjährigen Freundschaft mit den „Toten Hosen“. Die „Ackerbauern“ fungieren als Vorband bei beiden Lothe-Konzerten und unterstützen die Düsseldorfer in der Folgezeit immer wieder bei Tourneen. In mehreren Musikvideos der Punkpioniere - so dem zu „Eisgekühlter Bommerlunder“ - sind sie als Mitwirkende zu sehen. Etwa ab 2000 trennen sich dann die Lebenswege; die einen entwickeln sich zu Mega-Stars, für die anderen bleibt die Musik ein geliebtes Hobby neben den Alltagspflichten.

„So schön, schön war die Zeit“
Was ist nach 40 Jahren geblieben von der Punk-Ära in Lothe? Einiges. Der Jugendkeller dient als Dorfgemeinschaftshaus weiterhin als Veranstaltungsort, unter anderem für Seniorennachmittage. Die damaligen Akteure halten untereinander immer noch Kontakt, auch wenn nicht mehr alle in der Heimat wohnen. Man trifft sich regelmäßig in der Region zu Konzerten, Partys oder anderen Anlässen wie dem Karneval – und alle sind den härteren Tönen treu geblieben. „Punk ist eben mehr als nur Musik, das ist eine Lebenseinstellung“, begründet Ralf Osterholz das. „Ackerbau & Viehzucht“ steht – als vermutlich dienstälteste Punkband der Region - noch immer auf der Bühne, so beim Freibad-Open-Air in Belle. Gefragt nach seinem Resümee der wilden 1980er zitiert Bandleader N-te eine Textzeile der Tote-Hosen-Vorläuferband „ZK“: „So schön, schön war die Zeit“.
Dr. Thomas Bauer, gebürtiger Bergheimer, arbeitet an der Uni Münster. Privat erforscht er die Geschichte seiner Heimatregion. Im Jugendkeller in Lothe hatte seine Punkband Auftritte und zeitweise auch ihren Übungsraum.