Eiskalt und ein Unikat: Minus 18 Grad im Inneren des einzigen Gefrierhäuschens Lippes

Schieder-Schwalenberg/Brakelsiek. An der Straße &bdquo;Am Bohlen 1“ in Brakelsiek steht ein schmuckes, eher unscheinbares weißes Häuschen mit rotem Dach. Wer daran vorbeifährt, mag es für ein Tiny House halten. Vielleicht 70 Quadratmeter groß. Doch das Haus hat nur ein einziges Fenster. Dafür viele, viele Mieter. Und wer vorbei geht, vernimmt das stetige Summen eines Ventilators. Im tiefsten Inneren herrscht Eiseskälte. Das Brakelsieker Gefrierhäuschen ist ein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert.

45 Grad Temperaturunterschied 20. August 2024. Heute vor genau 66 Jahren wurde das Häuschen eingeweiht. Wie heiß es damals war, ist nicht überliefert. Heute herrschen draußen 27 Grad Celsius, drinnen ist es schlappe 45 Grad kälter. Zieht euch warm an!Doch erst einmal geht es in den Vorraum. Hier herrscht der Küchencharme der 60er Jahre vor: Mehrere alte Küchentische, ein Holzschrank in einer Ecke, in einer anderen ein Hackeklotz, gegenüber ein altes Waschbecken mit Boiler, Fleischerhaken an der Wand. ?Die Wände sind weiß gefliest – praktisch und abwischbar. Denn die Arbeit, die hier vor Jahrzehnten verrichtet wurde, war mitunter ganz schön blutig.

Walter Tölle, langjähriger Vorsitzender der Gefriergemeinschaft Brakelsiek, erklärt: &bdquo;Die Menschen haben zu Hause geschlachtet und dann hier das Rind, Schwein oder Lamm zerteilt und verpackt.“ Knapp 300 Kilogramm Fleisch und Knochen kamen bei so einer Hausschlachtung eines Rindes zusammen, in den Gärten der Selbstversorger wuchsen Obst und Gemüse.

Supermärkte gab es nicht. Die Vorräte mussten haltbar gemacht werden. Doch wer hatte in den 50er Jahren schon einen Eisschrank oder eine Gefriertruhe? Die Idee der Dorfgemeinschaft, einen gemeinsamen Kühlraum zu errichten, war geboren.?Die Brakelsieker errichteten das Haus in vielen Stunden Eigenleistung auf einem Grundstück von Familie Frevert – in Erbpacht. Der Deal: Freverts hatten Anspruch auf die lebenslange, kostenlose Nutzung von zwei 200-Liter-Fächern, nach 99 Jahren fällt das Grundstück mit Haus an die Familie zurück – es sei denn, das Gefrierhäuschen wird zuvor aufgegeben. Doch die Gefriergemeinschaft ist wild entschlossen, den besonderen Dorfschatz zu halten.

Zehn Fächer sind noch frei Und das Geschäft mit der Eiseskälte läuft. Angelika Tewesmeier, die für die Vermietung der 70 Fächer zuständig ist, ist mit der Belegung hoch zufrieden. Zehn Fächer sind noch zu haben, &bdquo;übrigens nicht nur für Brakelsieker und sogar monatsweise“, macht sie ein bisschen Werbung. Wer eines mieten möchte, wendet sich an Angelika Tewesmeier unter Tel. (05284) 287.

Als das Gefrierhäuschen 1958 eröffnet wurde, war das nicht nötig. Der Andrang auf die zur Verfügung stehenden Fächer mit einem gesamten Fassungsvermögen von 13.200 Litern war so groß, dass gelost werden musste. Das geht aus der schwarzen Kladde hervor, die Walter Tölle zum Termin mitgebracht hat. In schönster Handschrift sind hier die Ergebnisse der Jahreshauptversammlungen von Anfang an akribisch notiert. Der letzte Eintrag stammt vom 19. April 1994.

1958 kostete so ein Gefrierfach den Aufzeichnungen zufolge 2 DM; Inflation hin oder her, viel teurer ist es heute auch nicht: 4 Euro für ein 100-Liter-Fach, 8 Euro für 200 Liter und 12 Euro für 300 Liter. Das letzte Mal wurden die Preise 2013 um jeweils einen Euro erhöht.

So groß wie seinerzeit ist das Interesse zwar nicht mehr, doch Tewesmeier und Tölle stellen nach einer Durststrecke inzwischen wieder eine wachsende Nachfrage fest – wohl auch, weil sich Menschen darauf besinnen, gutes Fleisch aus frischer Schlachtung zu kaufen und der einstige Gemüsegarten eine Wiedergeburt feiert.

Für Wildschweine - und Bier Angelika Tewesemeier öffnet die erste Tür, dahinter ein weiterer gefliester Raum, hier ist es schon merklich kühler. Kühlschranktemperatur – früher lagerten Jäger ihre Stücke hier zuhauf. Wer zu seinem Gefrierfach in den hinteren Raum wollte, musste vorbei an Wildschwein- und Rehhälften. Nichts für zart Besaitete. &bdquo;Man kann den Raum aber auch nutzen, um Bier kalt zu stellen“, lacht Klaus Föste und zwinkert vielsagend. Die Lagerung von Bierfässern oder -kisten und schüsselweise Salaten kommt heutzutage wohl öfter mal vor – die Brakelsieker feiern gerne in großer Runde.

Die kleine Tür, die links in die Wand eingelassen ist, führt in einen weiteren Raum – hier gab es früher die Möglichkeit, Gefriergut im Vorfroster bei minus 30 bis 40 Grad schockzugefrieren, bevor es in die eigentliche Kühlung verlegt wurde. Der Vorfroster ist inzwischen jedoch zumeist abgeschaltet. ?Die massive Stahltür mit einem großen Hebel könnte auch zu einem Safe in einer Bank gehören.

Angelika Tewesmeier öffnet die letzte Tür mit einem Ruck. Zum Vorschein kommt ein brauner schwerer Vorhang, dahinter befindet sich das Herzstück der Anlage: holzverkleidete Verschläge, die an Legebatterien erinnern. Doch welches Huhn könnte bei minus 18 Grad überleben? Das, was sich hinter der mit Vorhängeschlössern versehenen Holzverkleidung befindet, ist längst geschlachtet und zerkleinert. Fleisch, Gemüse, Obst – alles, was in früheren Zeiten, als es noch keine Kühlhäuser gab, gepökelt und eingekocht wurde, um es haltbar zu machen.?Langsam aber sicher ist die Kälte zu spüren. Lange kann man’s hier nicht aushalten.

Klaus Föste drückt auf einen Knopf mit einem Klingelsymbol gleich neben dem Thermometer an der Wand. Ein ohrenbetäubendes Geräusch ertönt, das draußen, auf der Straße, noch um ein vielfaches lauter zu hören ist. Es ist die Versicherung für alle, die fürchten, bei den frostigen Temperaturen eingesperrt zu sein, weil jemand aus Schabernack die Tür von außen verschlossen haben könnte. Der Ton ist in der Nachbarschaft nicht zu überhören. &bdquo;Aber das ist noch nie passiert“, schwört Föste, der direkt gegenüber wohnt. Sicher ist sicher, denn lange überleben würde ein Mensch hier drinnen wohl nicht.

Stammtischmitglieder greifen zum Pinsel Das Brakelsieker Gefrierhäuschen ist auch heute noch mit derselben Technik ausgestattet wie zu Anfang, viel ausgetauscht werden musste laut Tölle noch nicht. Erst vor ein paar Wochen haben Mitglieder vom Stammtisch LTG (Lipper tun Gutes) das Gebäude komplett renoviert, es von außen und innen gestrichen und die Türen und die Eingangstreppe auf Vordermann gebracht. Die Gefriergenossenschaft baute ein neues Fenster ein und ließ den Motor des zentralen Kühlaggregats reparieren. Wieder in Eigenleistung, wie vor 66 Jahren.

Wie besonders das Gefrierhäuschen ist, zeigt eine aktuelle Anfrage aus Lindlar im Oberbergischen Kreis. Frederik Grundmeier arbeitet im dortigen Freilichtmuseum momentan am Wiederaufbau einer Gemeinschaftsgefrieranlage und versucht, die Standorte der sogenannten &bdquo;Dorfwaschanlagen“ zu erfassen, die Anfang der 1950er Jahre errichtet wurden. Von den rund 1000 Gemeinschaftsgefrieranlagen, die er in NRW bislang ausfindig machen konnte, seien nach seinem bisherigen Kenntnisstand nur noch acht in Betrieb, wie er mitteilt.

Dass das einzige lippische Exemplar noch nicht reif fürs Museum ist, ist sicher. &bdquo;Aber vielleicht kommt es ja auch irgendwann einmal ins Freilichtmuseum nach Detmold“, wagt Klaus Föste einen Blick in die Zukunft. 33 Jahre bleiben noch, bis der Erbpachtvertrag ausläuft. Bis dahin können die Brakelsieker noch jede Menge einfrieren.

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