Studium mit Legasthenie: Wie ein junger Mann aus Gütersloh seinen Traum lebt

Gütersloh. Eine Freizeit in Süddeutschland gehört zu Luis' schlimmsten Erinnerungen an die Zeit, in der Lesen und Schreiben für ihn nicht nur eine Qual, sondern fast unmöglich waren. Jeden Tag studierten all die anderen Kinder um ihn herum gespannt die Pläne mit den Aktivitäten, füllten die Bestellbögen fürs Essen aus. Der Neunjährige hingegen war vollauf damit beschäftigt, voller Scham und Druck zu verheimlichen, dass er all das nicht konnte. Heute ist Luis Bongarth 21 Jahre alt, hat sein Fachabitur in der Tasche und gerade begonnen, Architektur zu studieren.

Es war dieser Traum, der ihn all die Jahre anspornte, seine Lese-Rechtschreib-Störung zu bekämpfen. Denn als seine Eltern ein Haus bauen, ist Luis elf Jahre alt, bekommt viel von den Planungen mit. "Da war mir klar: Das will ich machen. Und es war auch klar: Dafür brauche ich ein Abitur und ein Studium. Das hat mich sehr motiviert, hart zu arbeiten."

In Therapie ist der Schüler damals bereits, allerdings noch nicht so lange, wie man vermuten könnte. Nach der ersten Klasse wechselt er von der Regel- auf die Waldorfschule, wiederholt dort das Schuljahr. Weil er sehr intelligent ist, kann er viel kaschieren, außerdem ist er gut in vielen anderen Fächern, in denen das Lesen nicht so im Fokus steht. "Ich konnte lange eigentlich nur das Alphabet auswendig." Und so fällt den Lehrern erst spät auf, dass der Junge kaum lesen und nur schlecht schreiben kann.

Busfahrer in Gütersloh werfen ihn aus falschen Bussen Erst mit neun Jahren beginnt er eine Therapie, fängt dort mit ganz einfachen Übungen wie Silbentraining an. Für ihn ist das Zusammensetzen eine große Herausforderung. "Man muss sich das so vorstellen, als wenn man als Normalleser irgendein Fantasiewort aus beliebig zusammengesetzten Buchstaben sieht. Da muss man sich dann durchwühlen, Stück für Stück. Und für mich war das mit allen Wörtern. Sie ergaben nicht auf den ersten Blick Sinn, wie das im normalen Lese-Rechtschreib-Erwerb irgendwann funktioniert."

Wie stark ihn das einschränkt, erlebt Luis immer wieder im banalen Alltag. Er steigt in Busse, die deutlich "Dienstfahrt" vorne dran stehen haben, wird von den Fahrern zurechtgewiesen: "Kannst du nicht lesen?" Kann er nicht, und die Scham darüber ist so groß, dass er anderen Menschen sein Problem auch nicht erzählen möchte.

Dabei merkt er auf der schon erwähnten Freizeit, wie hilfreich das eigentlich ist. Weinend und voller Heimweh ruft er von dort aus irgendwann seine Mutter an, die ihn dazu bringt, einen Betreuer ans Telefon zu holen, dem sie alles erklärt. "Von da an wussten alle Bescheid und halfen mir, da war es eigentlich nicht mehr so schlimm und der Druck war raus."

Lehrer an Waldorfschule im Kreis Gütersloh unterstützen stark Und dann kommt der Traum, Architekt zu werden. "Da hab ich mir selbst ein kleines, dünnes Leseheft gekauft und angefangen, zu lesen." Das ist der Durchbruch, denn Legasthenie-Therapie ist harte Arbeit. Jeden Tag sitzt Luis zusammen mit seiner Mutter nach der Schule noch Stunden am Tisch und übt. "Da ist schon sehr viel Freizeit und auch Kindheit für draufgegangen. Aber ich bin ihr heute sehr dankbar, dass sie sich so viel Zeit für mich genommen und mich so unterstützt hat."

An seine Grenzen kommt Luis trotz seines Fleißes immer wieder. Als er zusätzlich zur deutschen noch zwei Fremdsprachen bewältigen soll zum Beispiel. Er ist sich heute sehr sicher, dass er sich auch deshalb so entwickeln konnte, weil er auf einer Waldorfschule war. Noten gibt es nicht, auch kein Sitzenbleiben und der Anspruch, jedes Kind in seiner individuellen Entwicklung abzuholen, kommt ihm sehr zugute. "Ich wusste dann vielleicht nicht, wie man Wolke, cloud, schreibt. Aber ich kannte die Vokabel und das wurde von den Lehrern berücksichtigt."

Trotzdem entscheidet er sich in der Mittelstufe, Französisch abzubrechen, weil er es einfach nicht packt - oder zumindest nicht zu seiner Zufriedenheit. Denn nicht nur die Legasthenie, auch er selbst steht sich mit seinem Ehrgeiz und seiner Perfektion ein Stück weit im Weg. "Ich glaube, das hatte auch schon mit diesen Demütigungen aus der Kindheit zu tun. Ich kann bis heute Dinge schlecht halb erledigen oder so, dass ich gerade durchrutsche. Und in Französisch hätte ich mit Ach und Krach eine Fünf geschafft."

Lese-Rechtschreib-Störung nicht an die große Glocke hängen Die Entscheidung bedeutet aber auch, dass er an der Waldorfschule kein Abitur machen kann. Und so beginnt er zunächst eine Ausbildung zum Bauzeichner. Doch die bricht er ab, weil ihm das riesige Berufskolleg keinen Freiraum für Kreativität bietet und die Anonymität ihn vereinsamen lässt. Im zweiten Anlauf entscheidet er sich für ein ungewöhnliches Konzept. Parallel zum Fachabitur an der Glasfachschule in Rheinbach darf Luis an der privaten Alanus Kunsthochschule in Bonn bereits Architektur-Kurse besuchen. Er wird von älteren Studierenden unter die Fittiche genommen und darf beim Modellbau assistieren. Die Erlebnisse beflügeln ihn und so schafft er sein Fachabitur - mit einem Durchschnitt von 1,0.

Seit ein paar Wochen ist Luis jetzt regulärer Student an der Hochschule und glücklich mit seiner Wahl. "Ich fühle mich sehr wohl hier, auch, weil es eine kleine Uni ist." Im Alltag behindert ihn seine Lese-Rechtschreib-Störung kaum noch. "Aber klar ist: Aus mir wird nie der große Leser werden. Habe ich die Wahl, entscheide ich mich immer fürs Hörbuch."

Immer noch liest Luis langsamer als andere. Wichtige Schreiben lässt er von seinen Eltern durchsehen. Fremdsprachen bedeuten immer noch eine Herausforderung. An die große Glocke hängt er seine Legasthenie nicht. "Ich bewundere und respektiere Menschen, die damit offen umgehen. Aber für mich gehört das einfach der Vergangenheit an."

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