Was passiert in NRW, wenn Schüler nicht in der Schule ankommen?

Bielefeld/Düsseldorf. Im Fall der in Sachsen getöteten neunjährigen Valeriia steht nun auch die Schule des Mädchens im Fokus der Ermittlungen. Denn eigentlich hätte sie die Eltern über das Fehlen des Kindes benachrichtigen müssen. Das schreibt in Sachsen ein allgemeiner Erlass vor. In NRW aber gibt es eine solche Vorgabe gar nicht. Und selbst wenn es sie gäbe, melden Schulen aus der Region, wäre ein solches Vorgehen für sie nicht zu leisten.

Es ist der Albtraum aller Eltern: Das Kind wird auf dem Schulweg entführt und niemand merkt etwas. Die Eltern wähnen es in der Schule, die Schule geht von einer Erkrankung aus. Um genau dieses Missverständnis zu vermeiden, haben andere Bundesländer entsprechende Vorgaben. So regelt in Sachsen ein verpflichtender Erlass, dass Schulen die Eltern unentschuldigt fehlender Schüler spätestens nach der zweiten Schulstunde kontaktieren müssen, teilt ein Sprecher des dortigen Kultusministeriums auf Anfrage mit.

Auch in Rheinland-Pfalz gibt es diese Regelung. Und so wurde im vergangenen September aufgrund des Anrufs der Schule umgehend eine Großfahndung ausgelöst, als eine Zehnjährige nicht zum Unterricht erschien. Sie war auf dem Weg zur Schule von einem Mann in ein Auto gezerrt, entführt und missbraucht worden. Sie konnte aber nach einigen Stunden aus der Gewalt des Mannes, eines vorbestraften Sexualtäters, befreit werden.

Schulen in OWL gehen völlig unterschiedlich vor Ganz anders sieht es in Nordrhein-Westfalen aus. Grundsätzlich ist das Fehlen von Schülern im Schulgesetz NRW zwar aufgenommen. Hier ist allerdings lediglich vorgeschrieben, dass Eltern unverzüglich die Schule benachrichtigen müssen, wenn ihr Kind im Unterricht fehlt.

Für den umgekehrten Fall findet sich keine Vorgabe. Unter der Überschrift &bdquo;Information und Beratung“ ist in Paragraph 44 lediglich festgehalten, dass die Schule Eltern in allen grundsätzlichen und wichtigen Schulangelegenheiten zu informieren und zu beraten hat. Auf Anfrage der Redaktion teilt ein Sprecher des Schulministeriums mit, dass dazu auch gehöre, dass die Schulen die Eltern informieren, wenn minderjährige Schülerinnen und Schüler aus ungeklärtem Grund dem Unterricht fernbleiben. Explizit formuliert ist das aber nicht.

Entsprechend unterschiedlich handhaben Schulen in Ostwestfalen-Lippe den Fall. Vor allem die Größe der Einrichtung und die Zahl der Schüler ist dabei ausschlaggebend, zeigen stichprobenartigen Abfragen. Kleinere Grundschulen mit weniger Schülern können die Fürsorgepflicht eher leisten. So teilt die zweizügige Grundschule Babenhausen im gleichnamigen Bielefelder Stadtteil auf Anfrage zum Beispiel mit, dass jeder unentschuldigt fehlende Schüler von Lehrkräften morgens gemeldet werde und die Mitarbeiterin des Sekretariats dann umgehend die Eltern kontaktierten. Ungefähr 200 Schüler besuchen im Schnitt die Schule.

Schulleitungen aus Bielefeld: Alarmsystem ist nicht zu leisten Auch die ebenfalls zweizügige Grundschule Elverdissen in Herford geht so vor. &bdquo;In der Klasse wird beim Morgenritual die Anzahl der Kinder an der Tafel festgehalten und die Zahl fehlender Kinder notiert“, teilt Schulleiterin Stefanie Augustin auf Anfrage mit. &bdquo;Fehlt das Kind unentschuldigt, wird über das Schulbüro zu Hause angerufen und nachgehakt.“ Außerdem seien Eltern angehalten, ihre Kinder bei Krankheit oder Arztbesuch telefonisch oder schriftlich per Mail bis spätestens 7.50 Uhr zu entschuldigen.

Anders stellt sich die Lage an größeren Grundschulen und weiterführenden Schulen dar, weiß Martina Reiske, selbst Schulleiterin in Bielefeld und außerdem Mitglied im Vorstand der Schulleitungsvereinigung NRW. &bdquo;Viele Schulen gehen bei unentschuldigtem Fehlen natürlich irgendwann mit den Eltern in den Dialog. Aber eher aufgrund des Themas Schwänzen und nicht, weil eine akute Gefährdungslage vermutet wird.“ Reiske zweifelt zudem, ob sich angesichts fehlender Ressourcen in Schulsekretariaten und Schulsozialarbeit das Prozedere wie in Rheinland-Pfalz und Sachsen überhaupt umsetzen ließe. &bdquo;Auch wenn angesichts der Vorfälle die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung natürlich niemals bestritten werden kann. Aber Schulen müssen das personell auch leisten können.“

Dieser Ansicht ist auch Torsten Schätz, Leiter der Martin-Niemöller-Gesamtschule in Bielefeld. Gut 1.200 Schülerinnen und Schüler besuchen die sechszügige Schule, allein die Unterstufe besteht aus 450 Schülern. &bdquo;Gehen wir davon aus, dass pro Stufe in den Klassen fünf bis zehn Schüler morgens unentschuldigt fehlen, das ist realistisch: Dann müsste jemand 60 Elternhäuser kontaktieren, von denen vielleicht die Hälfte nicht erreichbar ist. Hinzu kommen die Sprachbarrieren, bei uns und an vielen anderen Schulen. Das können die Mitarbeiter der Schulbüros nicht leisten.“

Schulministerium NRW prüft Änderung der Vorgaben Dennoch hält Schätz es für sinnvoll, eine entsprechende Regelung zu überdenken. Allerdings weniger aufgrund von Gefährdungslagen auf dem Schulweg, sondern eher beim Thema Absentismus, der häufig verharmlosend als &bdquo;Schuleschwänzen“ bezeichnet wird. &bdquo;Wenn wir hier die personellen Möglichkeiten hätten, beim Fehlen der Kinder und Jugendlichen direkt mit den Eltern in Kontakt zu gehen, wäre das sehr hilfreich. Das wäre dann aber auch eine Aufgabe für eine personell deutlich aufgestockte Schulsozialarbeit, hier müssten die emotionalen und sozialen Lagen in Elternhäusern stark berücksichtigt werden.“

Zunächst aber wird sich das Schulministerium NRW damit beschäftigen, ob es in Sachen Fürsorgepflicht für den Schulweg mehr Handlungsbedarf im bevölkerungsreichsten Bundesland geben muss. Ein Sprecher teilte auf Anfrage mit, dass darüber bei der nächsten großen Dienstbesprechung zwischen Schulministerium und Schulaufsicht Anfang des neuen Schuljahres gesprochen werden wird. &bdquo;Dabei soll unter anderem erörtert werden, ob in Nordrhein-Westfalen weiterer Handlungsbedarf besteht, was den Umgang mit unentschuldigtem Fernbleiben vom Unterricht angeht.“ Auch im Vorfeld werde sich das Schulministerium schon mit den Bezirksregierungen austauschen.

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