Bielefelder Ärzte wehren sich gegen Vorwurf der Ignoranz gegenüber betreuten Patienten

Bielefeld. Die rechtliche Seite ist klar und unmissverständlich: Sollen bei betreuten Menschen – ob kognitiv beeinträchtigt oder durch hohes Alter in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt – medizinische Eingriffe erfolgen, müssen die Betroffenen laut Gesetzgeber &bdquo;angemessen“ beteiligt werden. Seit dem 1. Januar 2023 sorgt eine Novelle des Betreuungsgesetzes noch stärker dafür, dass ein Patient vor medizinischen Interventionen wie Operationen, aber auch Röntgenaufnahmen, MRT oder Chemotherapien in verständlichen Worten aufgeklärt wird.

Diese Anforderung an ein teils überlastetes Gesundheitssystem sieht die Rechtsanwältin Tatjana Schul in vielen Fällen vernachlässigt. Sie arbeitet seit Jahren als rechtliche Betreuerin, überwiegend für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen. Um 25 Personen in Bielefeld kümmert sie sich auch nach ihrem Umzug nach Norddeutschland noch. 30 kommen in ihrer neuen Heimat Schleswig hinzu.

Sofortiger Ruf nach dem rechtlichen Betreuer Was die erfahrene Betreuerin auf die Palme bringt, ist die wiederkehrende Erfahrung, dass bei niedergelassenen Ärzten und in Kliniken &bdquo;das Recht auf Selbstbestimmung Betreuter viel zu wenig Rechnung getragen wird“. Gespräche mit Betroffenen würden allzu oft nur abgehakt, sagt sie. Es werde nicht ausreichend versucht, den Menschen trotz seiner Einschränkungen wirklich zu erreichen – &bdquo;viel zu schnell“ werde nach den rechtlichen Betreuern gerufen, die dann &bdquo;mal eben schnell eine Unterschrift leisten sollen“, um medizinisches Vorgehen abzusegnen. Es gehe ums Geld und darum, möglichst schnell Entscheidungen zu treffen.

Als ein Beispiel nennt sie den Fall einer Schutzbefohlenen, für die eine Komplettentfernung der Eierstöcke angeraten wurde. &bdquo;Es musste ein ärztliches Gutachten her, was der zuständige Richter dann einer Kollegin übergab, weil ihm als Mann das Problem nicht wirklich einleuchtete, wenn bei einer 50-Jährigen die Eierstöcke vollständig entfernt werden“, schildert Schul.

Ein &bdquo;altgedienter“ Oberarzt in einer Bielefelder Klinik habe kurzerhand und fälschlicherweise geschrieben, dass die Frau entmündigt sei und nicht selbst befragt werden müsse. Eine eklatante Verwechslung der juristischen Sachverhalte von Betreuung und Entmündigung seitens der Ärzteschaft beklagt die Anwältin.

Systematische Suche nach Behandlungsfehlern Oft genug würden sich die behandelnden Ärzte nicht mit dem reformierten Betreuungsrecht auskennen, das den Betreuten mehr Rechte zugesteht. Sie als Betreuerin werde reflexhaft kontaktiert, um für ihre Betreuten Entscheidungen zu treffen. Solche, die diese selbst treffen könnten, wenn man sie denn vernünftig ins Bild setzen würde.

Diesem Bild widerspricht beispielhaft Florian Weißinger, Onkologe und Leiter des Tumorzentrums am EvKB-Standort Johannesstift. Er ist, wie alle anderen Kliniken auch, immer häufiger mit Patienten konfrontiert, deren Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist. &bdquo;Wir bemühen uns immer, den Betroffenen die Lage zu erläutern, Behandlungsschritte zu erklären. Wenn aber ein gesetzlicher Betreuer bestellt ist, nehmen wir den auch mit ins Boot“, schildert er. Das habe seine Berechtigung: &bdquo;Wir stehen bei jeder Entscheidung in einem Spannungsfeld, haben Juristen im Nacken, die teils systematisch nach vermeintlichen Kunstfehlern suchen.“

Alternde Gesellschaft bräuchte mehr Expertise Wegen des Risikos, mit einer Entscheidung vor allem bei kognitiv eingeschränkten Patienten vor Gericht zu landen, sichere man sich im EvKB größtmöglich ab, sagt der Mediziner. Er verstehe die Aufregung der Anwältin daher nicht: Manchmal sei ein Riesenaufwand nötig, die Patientin oder den Patienten ins Bild zu setzen und zugleich den Betreuer, der nicht immer sofort erreichbar sei, einzubeziehen: &bdquo;Das leisten wir uns natürlich, aber wir haben nicht immer eine Woche Zeit, um Entscheidungen zu treffen.“

Das Argument der Anwältin, sie müsse für eine Unterschrift extra aus dem Norden anreisen, lässt Weißinger nicht gelten: &bdquo;Selbstverständlich können Dinge per Video-Konferenz besprochen, Unterschriften per Fax geleistet werden.“ Auch im Hinblick auf betagte Patienten, deren Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt ist, sieht der Arzt nur Vorteile in der Praxis, sich doppelt abzusichern.

Mögliches Fazit der Kontroverse: Die schnell alternde Gesellschaft bräuchte viel mehr Expertise im Umgang mit beeinträchtigten Menschen. Aber das hängt – wie immer – von finanziellen und personellen Ressourcen ab.

Bielefelder Ärzte wehren sich gegen Vorwurf der Ignoranz gegenüber betreuten Patienten

Eilanträge gegen NRW-Krankenhausplan gescheitert

Wie der Prozess gegen eine Detmolder Anwältin das ganze Betreuungssystem infrage stellt

Großer Andrang, kein Urteil: Gericht bringt Berufsverbot für angeklagte Anwältin ins Spiel

IGeL: Ihre Patientenrechte bei Selbstzahler-Leistungen

Stiftung fordert Nothilfe für Opfer von Behandlungsfehlern

Urteil von Lippstadt: Ärzte-Chef befürchtet, dass Kliniken weitere Behandlungen streichen

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

LZplus Black-Deal

1 € pro Woche

Weiterlesen mit LZplus