Lübbecke. Zum dritten Mal in diesem Jahr gab es für Freitag eine Amokdrohung gegen die Lübbecker Stadtschule. Erneut blieb es friedlich und erneut konnten die vermeintlichen Täter in der Schülerschaft identifiziert werden. Es ist in diesem Jahr die siebte Bedrohungslage dieser Art an Schulen allein im Kreis Minden-Lübbecke. In ganz Ostwestfalen-Lippe sind es noch mehr. Jedes Mal kommt es zu Einschränkungen, Angst – und hohen Kosten für die Einsätze. Eine Recherche in NRW zeigt allerdings schnell: In wenigen Fällen kann dem etwas entgegengesetzt werden. Am Ende ist es nur ein hingekritzeltes Wort, versehen mit einem Datum, das ein ganzes System zum Erliegen bringt. Denn Schulleiter haben klare Vorschriften, was im Fall einer Amokdrohung zu tun ist: Sie müssen Eltern und Bezirksregierung verständigen. Laut dieser Aufsichtsbehörde liegen allen Schulen landeseinheitliche Notfallordner mit Handlungsempfehlungen zu Krisensituationen vor. Selbst wenn der Unterricht, wie jetzt in Lübbecke, trotzdem stattfindet, ist es Eltern freigestellt, die Kinder zuhause zu behalten. Was verständlicherweise auch viele tun. „Das ist insgesamt eine massive Störung der Abläufe“, sagt Martina Reiske, Vorstandsmitglied der Schulleitungsvereinigung NRW. Hier kennt man die Problematik zur Genüge, ist im Kontakt mit Schulleitern aus NRW, die selbst schon von dem Szenario Amokwarnung betroffen waren. „Das Problem ist, dass es mittlerweile so viele Trittbrettfahrer unter den Schülern gibt. Die machen sich einen Jux daraus, genießen, wie viel Macht sie dadurch haben. Und die Schulleitungen müssen natürlich jeden Vorfall ernst nehmen.“ Challenges und Nachahmer befeuern Amokdrohungen Doch warum greifen die Amok-Ankündigung so um sich? Eine Erklärung ist im Netzwerk Tiktok zu finden. Hier gibt es seit Jahren immer wieder Challenges (auf Deutsch: Herausforderungen), in denen sich Jugendliche gegenseitig zu Vandalismus oder Störverhalten auffordern. Bundesweit gab es mehrere Fälle von Brandstiftung auf Schultoiletten, die Schüler filmten und ins Netz stellten. Das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg hat deshalb nach mehreren Vorfällen an Schulen im Bundesland Ratgeber für Lehrkräfte und Eltern entwickelt. Auch die Landesmedienanstalt NRW hat die Challenges im Fokus und sie deshalb in einer Studie untersucht. Das Ergebnis: Ein Drittel der Aktionen hat einen klar schädlichen Charakter, 65 Prozent bewertet die Aufsichtsbehörde als neutral und harmlos. Und nur vier Prozent der Challenges sind positiv bewertet. Zwar muss Tiktok schädliche Videos und damit zusammenhängende Suchwörter blockieren. „Aber wenn das nicht früh genug oder ausreichend passiert, verbreitet sich das trotzdem stark“, sagt Derya Lehmeier aus der Abteilung Medienorientierung. Auch in Lübbecke spricht Schulleiterin Anke Schrader von einem möglichen Nachahmer-Effekt. Die Schüler hätten wohl schulfrei haben wollen. Ein vermeintlicher Spaß, der aber kein Kavaliersdelikt ist und teuer werden kann. „Auch eine Ankündigung von Gewalt zieht Sanktionen nach sich – und bei minderjährigen Schülern haften natürlich die Eltern“, sagt Erich Rettinghaus, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft NRW. Amokdrohungen werden strafrechtlich verfolgt Die Polizei im Kreis Minden-Lübbecke prüft nach eigenen Angaben derzeit, ob den mutmaßlichen Tätern aus Lübbecke eine solche Schadensersatzforderung droht. Wie teuer das werden kann, verdeutlichen die Beamten an einem Fall aus Petershagen. Hier hatte ein Jugendlicher im August 2023 durch einen vermeintlich anonymen Anruf einen Amokalarm verursacht. Er konnte ermittelt werden und wurde vor dem Mindener Amtsgericht verurteilt. „Damals war eine Vielzahl von Einsatzkräften vor Ort. Die Polizei kann für jede involvierte Einsatzkraft pro angefangene 15 Minuten eine Gebühr in Rechnung stellen“, rechnen die Beamten vor. „Der Gebührenrahmen erlaubt hier einen Schadensersatz von bis zu 100.000 Euro.“ Auch Michael Mertens vom Bundesvorstand der Polizeigewerkschaft betont im Gespräch die strafrechtlichen Folgen. „Da wird ein großer Verwaltungsapparat in Gang gesetzt. Das kann dem Täter in Rechnung gestellt werden.“ Denn grundsätzlich werde jede Drohung ernst genommen. Meist würden die Ankündigungen zwar nicht umgesetzt, aber das wisse man nie vorher. Die Polizei prüfe darum, wie ernst die Lage jeweils sei. „Pläne der Schulen liegen uns vor und es gibt Einsatzkonzepte, diese kennen auch die Schulen.“ Bei der Polizeigewerkschaft NRW betrachtet man die zunehmende Zahl der Amok-Ankündigungen als echtes Problem. „Das entgleitet uns gerade“, so Vorsitzender Rettinghaus. Er weist auf die Grenzen der Polizeiarbeit hin. „Rechtlich und technisch hat die Polizei in den Fällen der reinen Ankündigung durch Zettel oder Schmierereien kaum Möglichkeiten, zu ermitteln.“ Wichtig sei es daher, Schüler im Unterricht ausführlich über die Strafen und Konsequenzen aufzuklären. Polizeigewerkschaft: Einlasskontrollen für Brennpunktschulen eine Möglichkeit Auf die Frage, warum bei Drohungen nicht alle Schüler überprüft werden, bevor sie die Schule betreten, sagt der Bundesvorsitzende Mertens: „Der Zugang zu Schulen ist oft sehr groß, es gibt viele Anreisemöglichkeiten. Da sind lückenlose Kontrollen schwer.“ Außerdem könnten Waffen auch schon vor dem Einsatz in die Schule gebracht werden. Landesvorsitzender Erich Rettinghaus sieht allerdings für stark betroffene Brennpunktschulen langfristig durchaus die Möglichkeit von Sicherheitsdiensten und Einlasskontrollen. „Aber das wünscht sich natürlich niemand.“ Auch ohne diese Lösung ist die Verunsicherung an vielen Schulen nach einem solchen Vorfall schon groß. Stefan Behlau, Vorsitzender des Verbandes für Bildung und Erziehung verurteilt die Amok-Ankündigungen deshalb scharf: „Es ist inakzeptabel, Drohungen als Mittel einzusetzen, um etwa Klausuren zu verschieben oder Leistungsüberprüfungen zu umgehen. Dies instrumentalisiert die Ängste und Sorgen der Schulgemeinschaft für persönliche Zwecke.“ Allerdings sei es kaum möglich, ein solches Verhalten komplett zu verhindern. Bedrohungslagen an Schulen in OWL in 2024: 5. Februar: Eine anonyme Bombendrohung per Mail löst an der Regenbogen-Gesamtschule in Spenge im Kreis Herford eine Evakuierung aus. 13. Februar: Amok-Alarm am Warburger Gymnasium Marianum im Kreis Höxter. Zwei Männer (21 und 28 Jahre alt) wurden mit Verletzungen festgenommen. Zwischen den beiden Iren, die auf dem nahen Campingplatz kampiert haben, war er zu einem Familienstreit gekommen. Der 28-Jährige flüchtete verletzt in die Schule. Diese löste Amokalarm aus. 15. Februar: „Amoklauf am 15.02.2024“ steht auf den Wandfliesen der Mädchentoilette der Verbundschule in Hille im Kreis Minden-Lübbecke. Der Unterricht findet statt. Den Eltern ist freigestellt, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken. 22. März: Für den 22. März wird an den Fliesen der Jungentoilette ein Amoklauf an der Stadtschule Lübbecke im Kreis Minden-Lübbecke angedroht. Die Polizei ist an dem Tag präsent. Der Unterricht findet statt. Den Eltern ist freigestellt, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken. 15. April: Alarm an der Sekundarschule Nordlippe in Extertal im Kreis Lippe wegen einer schriftlichen anonymen Bombendrohung. Verletzt wurde niemand; keine Hinweise auf den Täter. 19. April: Für den 19. April wird an den Fliesen an der Mädchentoilette ein Amoklauf an der Stadtschule Lübbecke im Kreis Minden-Lübbecke angedroht. Den Eltern wird freigestellt, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken. Ein Kind wird schließlich als Verfasser identifiziert. 3. Juli: Eine offenbar verwirrte Frau irrt über das Schulgelände der Grundschule in Vinsebeck im Kreis Höxter. Die Schulleitung aktivierte das Amokprotokoll: Alle schlossen sich in den Klassenräumen ein. Kurz darauf die Entwarnung: Laut Einsatzkräften habe zu keiner Zeit Gefahr bestanden. 29. August: In einem Klassenchat der Hoffmann-von-Fallersleben-Realschule in Höxter im Kreis Höxter ist die Rede von einer Amokdrohung. Die zwei Jugendlichen, die die Aussagen äußern, werden von der Polizei vernommen. 20. September: Beamte sind im Einsatz an der Stadtschule Lübbecke im Kreis Minden-Lübbecke. Im Treppenhaus hat eine Person das Wort „Amok“ mit Datum geschrieben. Die Schule stellt es den Eltern frei, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die mutmaßlichen Täter können ermittelt werden.