Krankmeldungen auf Höchststand: Schlechte Arbeitsmoral als mögliche Ursache

Berlin/Bielefeld. Die Fehlzeiten von Beschäftigten erreichen nach Angaben der AOK 2024 einen neuen Rekord. Obwohl die Grippewelle noch bevorsteht, gab es in diesem Jahr bereits so viele Krankheitsfälle wie im gesamten Vorjahr. In Westfalen-Lippe zählte die AOK Nordwest zwischen Januar und August bereits 249 krankheitsbedingte Arbeitsausfälle auf 100 Versicherte. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 kamen auf 100 Versicherte lediglich 182 Krankheitsfälle pro Jahr. Doch woran liegt das?

Der wesentliche Treiber der hohen Fehlzeiten sind nach Angaben der AOK Nordwest als größter Krankenkasse in OWL nach wie vor Atemwegserkrankungen. &bdquo;Der Krankenstand liegt aufgrund einer erhöhten Empfänglichkeit für Infektionen und neuer, zusätzlicher viraler Erkrankungen der vergangenen Jahre insgesamt höher“, erklärt der AOK-Vorstandsvorsitzende Tom Ackermann. &bdquo;So kamen zwischen Januar und August auf 100 Versicherte 82 krankheitsbedingte Arbeitsausfälle.“ Das seien 55 Prozent mehr als der Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 mit 53 Krankheitsfällen.

Diese Entwicklung beobachten auch aktuell wieder viele Hausärzte in ihren Praxen. &bdquo;Wir erleben aktuell eine ungewöhnlich frühe Infektwelle, vor allem aufgrund viraler Infektionskrankheiten“, erklärt Hausarzt Jens Grothues aus Beverungen (Kreis Höxter). &bdquo;Das Coronavirus spielt nach wie vor eine Rolle, aber auch andere Erreger.“ Aktuell untersuchen Grothues und sein Team täglich 30 Patienten in der Infektionssprechstunde. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts sind neben dem Coronavirus aktuell vor allem Rhinoviren für die vielen Atemwegserkrankungen verantwortlich.

Patienten fordern Krankschreibungen für Banalitäten &bdquo;Einige Patienten sind richtig krank, doch die Zahl der Fehlzeiten steigt auch deshalb so stark, weil die Bereitschaft zur Krankschreibung wegen Banalitäten steigt. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die wir seit Jahren beobachten“, sagt Grothues, der sich als dritter Vorsitzender im Hausärzteverband Westfalen-Lippe engagiert. Der Hausarzt erlebt zunehmend Patienten, die auch bei leichten Erkältungen oder Magen-Darm-Beschwerden lange Krankschreibungen einfordern. &bdquo;Das betrifft vor allem die jüngeren Generationen, weil die Verbundenheit von Arbeitnehmern zu ihren Arbeitgebern nicht mehr so groß ist wie früher.“ Zudem habe sich der Arbeitsmarkt in vielen Branchen in einen Arbeitnehmermarkt verwandelt. &bdquo;Und das wissen die Beschäftigten und haben weniger Druck.“

Grothues sieht in dieser Entwicklung eine Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. &bdquo;Keine Lust auf die Arbeit zu haben ist kein Grund für eine Krankschreibung. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. Doch wenn ich die Krankschreibung als Arzt nicht ausstelle, gehen die Patienten in die nächste Praxis.“ Arztbesuche bei Erkältungen sind nach Angaben des Hausarztes vor allem dann wichtig, wenn hohes Fieber, Atemnot, Schmerzen beim Atmen bestehen oder, wenn das Krankheitsgefühl so ausgeprägt ist, dass eine Trinkschwäche oder andere Einschränkungen entstehen. &bdquo;Diese Warnsignale sollte man bei sich und seinen Kindern ernst nehmen und beim Haus- oder Kinderarzt abklären lassen. Fälle für die Notaufnahme sind das aber nicht.“

Fehlt die Wertschätzung bei der Arbeit, steigt der Krankenstand In der Verantwortung für weniger Krankschreibungen sieht Grothues jedoch auch Unternehmen. &bdquo;Studien zeigen eindeutig, dass die Bereitschaft zur Krankschreibung bei Banalitäten und damit der Krankenstand steigt, wenn Beschäftigte keine Wertschätzung erfahren. Der Fisch stinkt vom Kopf.“

Das zeigt auch eine aktuelle Untersuchung des wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido). Aus der repräsentativen Befragung geht hervor, dass Arbeitnehmer, die zufrieden und emotional an ihren Arbeitgeber gebunden sind, gesünder sind, weil sie seltener krankgeschrieben sind und auch seltener krank zur Arbeit gehen. &bdquo;Die emotionale Bindung von Beschäftigten an ihr Unternehmen kann vor allem durch das Verhalten der Führungskraft und die individuelle Passung der eigenen Arbeitssituation zu den Wünschen der Beschäftigten positiv beeinflusst werden“, erklärt Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin für betriebliche Gesundheitsförderung im Wido.

Psychische Krankheiten nehmen massiv zu Ein langfristig wirkender Faktor auf höhere Krankenstände sind nach Angaben der AOK psychische Erkrankungen. In Westfalen-Lippe haben die Arbeitsausfälle aufgrund von Depressionen und anderen Krankheiten seit 2014 um 42 Prozent zugenommen. Das Beispiel Burnout-Erkrankungen zeigt die massiven Veränderungen: So stieg die Zahl der Krankheitstage pro 100 Versicherten von 101 im Jahr 2014 auf 200 in diesem Jahr.

&bdquo;Als Ursache vermuten wir ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren. Von der Zunahme psychischer Belastungen durch globale Krisen bis zu Veränderungen in der Arbeitswelt wie Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit durch ständige Erreichbarkeit“, erklärt Ackermann. &bdquo;Zusammenhänge sehen wir aber auch in dem offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen innerhalb der Gesellschaft und der verbesserten Diagnostik.“ Besonders betroffen seien Beschäftigte in den Bereichen Erziehung und Unterricht sowie im Gesundheits- und Sozialwesen und in anderen kontaktintensiven Berufen wie der öffentlichen Verwaltung.

Psychische Erkrankungen sorgen nach Angaben Ackermanns für besonders lange Fehlzeiten. &bdquo;Arbeitsunfähigkeiten wegen depressiver Störungen dauern im Durchschnitt 42 Tage.“ Und Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. So zeigt eine Untersuchung der AOK, dass allein in Westfalen-Lippe 13,2 Prozent der Bevölkerung von Depressionen betroffen sind, das entspricht etwa 988.000 Menschen.

Veränderungen im Beruf können psychischer Gesundheit schaden Angesichts der steigenden Zahlen fordert die Bundesärztekammer mehr Prävention am Arbeitsplatz. &bdquo;Die Arbeitswelt verändert sich rasant, unter anderem durch die Digitalisierung, den Einsatz künstlicher Intelligenz und den demografischen Wandel. Die hohe Dynamik dieser Veränderungsprozesse kann auch die seelische Gesundheit beeinträchtigen“, warnt der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Hans-Albert Gehle, Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe &bdquo;Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie“ der Bundesärztekammer. &bdquo;Umso wichtiger ist es, das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass es auch den seelischen Bedürfnissen der Mitarbeiter gerecht wird.“

Arbeitsmediziner und Betriebsärzte können dabei nach Einschätzung Gehles eine wichtige Rolle spielen. &bdquo;Eine professionelle Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen kann die psychische Gesundheit der Beschäftigten schützen und die Motivation und Leistungsfähigkeit steigern“, sagt Gehle.

Elektronische Krankschreibungen beeinflussen Statistik Einen Einfluss auf die steigende Zahl an Krankschreibungen hat nach Einschätzung des Wido auch die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. &bdquo;Es ist zu vermuten, dass vor der Einführung der elektronischen AU nicht alle Versicherten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei der Kasse eingereicht haben, sodass wir nun ein vollständigeres Bild haben“, erklärt Baumgardt.

Davon ist auch Grothues überzeugt: &bdquo;Wir Ärzte übermitteln die Krankschreibung direkt an die Krankenkassen, die dort dann von den Arbeitgebern abgerufen werden.“ Das sorgt nach Angaben des Allgemeinmediziners jedoch auch dafür, dass Arbeitnehmer, die die AU gar nicht oder nicht vollständig in Anspruch nehmen, in die Statistik als arbeitsunfähig eingehen. &bdquo;Der statistische Einfluss wird aber nicht besonders groß sein.“

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