„Eltern sprechen nicht genug mit Kindern“: Rekord bei Sprachstörungen

Düsseldorf/Bielefeld. In NRW haben so viele Kinder wie nie zuvor Sprachstörungen. 15 Prozent aller Sechs- bis Zwölfjährigen sind davon betroffen, zeigen Daten aus dem Kinderatlas der Barmer Krankenkasse. Damit ist die Diagnose-Rate seit 2005 um 75 Prozent angestiegen, das ist die deutschlandweit gravierendste Steigerung. Und auch bei der körperlichen Entwicklung hapert es gewaltig. Viele Kinder sind zum Beispiel nicht in der Lage zu einfachen Übungen wie Hüpfen auf einem Bein oder Purzelbaum. Ein Blick auf die Region OWL zeigt das gleiche Bild.

Aufschlussreich sind hier vor allem die Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen der kommunalen Gesundheitsämter, die für alle Kinder verpflichtend sind. Hier wird die sprachliche, geistige, körperliche und soziale Entwicklung von Fünf- und Sechsjährigen untersucht, bevor sie in die erste Klasse kommen. &bdquo;Dabei sehen wir, dass immer mehr Kinder Störungen im Spracherwerb vorweisen“, sagt Maike Klein, Leiterin des kinder- und jugendärztlichen Dienstes der Stadt Bielefeld. Anders ausgedrückt: &bdquo;Ein Drittel aller Kinder haben nicht die ihrem Alter entsprechende Sprachkompetenz.“

Auch beim Kinder- und Jugendmedizinischen Dienst des Kreises Paderborn bilden sich diese Defizite ab, hier sieht es allerdings noch wesentlich besorgniserregender aus. Der Gesundheitsbericht zu den Einschulkindern aus dem Vorjahr erfasst von 2019 auf 2023 einen Anstieg von Sprach- und Sprechstörungen auf fast 50 Prozent der Kinder.

Sechsjährige, die nur Ein-Wort-Sätze beherrschen Im Gegensatz zu den Barmer-Daten, die nur medizinisch diagnostizierte Sprachentwicklungsstörungen berücksichtigten, werden bei den Schuleingangsuntersuchungen die Daten aller Kinder erfasst. &bdquo;Daher sehen wir auch deutlich, dass die Schere immer weiter auseinandergeht zwischen Kindern aus bildungsfernen und bildungsnahen Familien“, sagt Klein. Wir haben hier Kinder, die sind top, die sind ihrem Alter sprachlich weit voraus. Wir sehen aber eben auch viele Sechsjährige, die sind auf dem Sprachlevel von Dreijährigen. Die können teilweise nur mit Ein-Wort-Sätzen antworten.“

Am Beispiel Bielefeld könne man dies sehr gut an den Brennpunkten sehen. &bdquo;Der Anteil sprachinkompetenter Kinder liegt im Stadtteil Mitte rund um die Pauluskirche, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, bei 66 Prozent. In Baumheide sind es rund 40 Prozent.“ Dornberg im Bielefelder Westen hingegen, dass als wohlhabend und bildungsnah gilt, weist lediglich einen Anteil von 10 Prozent auf.

Auch zu den Gründen für die Entwicklung geben abseits des muttersprachlichen Hintergrunds die Daten der Schuleingangsuntersuchung Aufschluss. So geht aus den Befragungen der Eltern hervor, dass 20 Prozent ihrem Kind gar nicht vorlesen. Und auch die Mediennutzung wird ermittelt. &bdquo;Hier sehen wir, dass zwei Drittel aller Kinder deutlich länger vor digitalen Geräten sitzen, als empfohlen.“ Für 37 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen sind das täglich 30 bis 60 Minuten, für rund 16 Prozent täglich 60 bis 90 Minuten und für rund 3,5 Prozent sogar über zwei Stunden. &bdquo;Und hier muss man sicherlich noch berücksichtigen, dass viele Eltern nicht ganz wahrheitsgemäß ankreuzen, um nicht schlecht da zu stehen.“

.responsive23-DgxQjNGTLwdFjLBQ-bar-vertical-smartphone-besitz-von-kindern-in { width: 100%; padding-top: 100%; } @media (max-width: 600px) { .responsive23-DgxQjNGTLwdFjLBQ-bar-vertical-smartphone-besitz-von-kindern-in { padding-top: 100%; } } @media (max-width: 360px) { .responsive23-DgxQjNGTLwdFjLBQ-bar-vertical-smartphone-besitz-von-kindern-in { padding-top: 142.86%; } } Kinderärzte-Sprecher aus Bielefeld prangert Kita-Politik an Auch Marcus Heidemann, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Westfalen-Lippe, ist mit der Thematik nur allzu vertraut. Auch in seiner Praxis sieht er immer mehr Kinder mit Sprachstörungen, die dringenden Förderbedarf haben. Die Gründe dafür sind in seinen Augen oft auch im Elternhaus zu suchen.

&bdquo;Spracherwerb und Sprachentwicklung brauchen Vorbilder. Kinder müssen sehen und erleben, dass Sprache etwas bewirkt, eine Funktion hat. Viele Eltern sprechen aber nicht oder viel zu wenig mit ihren Kindern.“ Die Gründe dafür seien vielfältig und sicherlich auch auf intensiven Medienkonsum von Kindern und Eltern zurückzuführen. &bdquo;Oft haben Eltern aber auch Probleme im Alltag, sind überfordert, leiden unter sozialen oder psychischen Problemen, da wird dann eine angemessene Förderung und Erziehung zur schwierigen Herausforderung.“

Erst vor Kurzem hatte der Kinderarzt ein Kind mit Migrationshintergrund in der Praxis, das ihm an der Stelle besonders in Erinnerung geblieben ist. &bdquo;Zu Hause sprachen die Eltern zwei Sprachen, in der Kita lernte das Kind Deutsch und am besten, aber trotzdem unzureichend, konnte es Englisch – aus den Youtube-Videos, die es den ganzen Tag schaute.“

In den Augen des Mediziners ist vor diesem Hintergrund vor allem die Entwicklung im Kita-Bereich fatal: &bdquo;Wir merken an dem Ausmaß der Sprachentwicklungsstörungen auch schon jetzt, wie wenig die Kitas in den vergangenen Jahren ihrer Funktion als Bildungsstätte gerecht werden konnten. Statt dem entgegenzuwirken, wird personell immer weiter abgebaut. Das kann man politisch so praktizieren, aber dann müssen das die Politiker auch ehrlich und klar formulieren: Wir haben künftig dann nur noch Kinder-Aufbewahrungsstätten mit einer Fachkraft und drei ’Wärtern’.“

Corona-Pandemie scheidet als Ursache aus Doch nicht nur auf der Sprachebene, auch im körperlichen Bereich verzeichnen Gesundheitsämter und Krankenkassen traurige Spitzenwerte. So hat laut Barmer-Kinderatlas der Anteil von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen deutlich zugenommen. Während im Jahr 2005 rund 39.000 Kinder betroffen waren, stieg diese Zahl 2023 auf 64.000, das entspricht einem Zuwachs von 66 Prozent. &bdquo;Viele Kinder können heute weder Hampelmann noch Purzelbaum“, sagt Barmer-Landesgeschäftsführer João Rodrigues.

Was allerdings sowohl aus den Daten der Barmer als auch aus dem Monitoring des Landeszentrums Gesundheit NRW klar hervorgeht: Die vielfach für alle schlechten Entwicklungen beschworene Corona-Pandemie hatte keinen besonderen Einfluss auf die Zahlen. So ist im Vergleich zwischen 2019 zu 2023 eben nicht der erwartbare Anstieg verzeichnet. &bdquo;Wir sehen in den Daten vielmehr eine langfristige Zunahme, die sich auch während er Pandemie fortgesetzt hat“, sagt Rodrigues.

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