SPD-Politiker Mützenich: Missbrauch beim Bürgergeld nicht durchgehen lassen

Es ist eine Überraschung, was Rolf Mützenich in unserem Gespräch offenbart. Seine Reden im Bundestag gelten als kraftvoll – aber für ihn selbst sind sie &bdquo;die größte Kraftanstrengung“. Schuld daran ist seiner Ansicht nach die Architektur des Bundestags.

Herr Mützenich, ein politisch denkwürdiges Jahr mit dem Aus für die Ampel geht zu Ende. Für wie demokratieverdrossen halten Sie die Bürgerinnen und Bürger nach dieser Regierung?

Die Demokratien in der Welt sind herausgefordert von Südkorea über die USA bis nach Deutschland. Ich kann nachvollziehen, dass Krisen und Konflikte Sorgen hervorrufen. Zweifel führen aber erst dann zur Verdrossenheit, wenn keine überzeugenden Lösungen gefunden werden. Das ist gefährlich für eine Demokratie.

Sind die Probleme zu groß oder war nur die Ampelkoalition zu schwach?

Jede neue Regierung wird sich den gleichen Herausforderungen stellen müssen, an denen die Ampel gescheitert ist: Fachkräftemangel und gleichzeitiger Arbeitsplatzabbau, Investitionsstau, schlechte Wirtschaftsdaten, der Krieg in der Ukraine und alles bei beschränkten Mitteln, die zur Verfügung stehen. Ein komplexes Gebilde, das sich keine unterkomplexen Antworten erlauben darf.

Nach Bekanntwerden des &bdquo;D-Day“-Papiers der FDP zum Koalitionsbruch haben Sie gesagt, das vergessen Sie nie. Würden Sie trotzdem wieder eine Koalition mit Christian Lindner bilden?

Seit Ende September stand offenbar fest, dass die FDP die Koalition verlassen wollte, und ich habe mich in Unkenntnis darüber noch sechs Wochen um Kompromisse bemüht. Das ist der schlimmste Vertrauensbruch, den ich in meiner politischen Arbeit erlebt habe. Ich bin tief getroffen und persönlich enttäuscht. Aber noch mehr hat mich das &bdquo;D-Day“-Papier erschüttert. Begriffe wie &bdquo;Feldschlacht“ oder &bdquo;Torpedo“ wecken in mir Erinnerungen und Emotionen. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg unter Deck, und Kriegsschiffe, auf denen er Dienst tat, wurden versenkt. Er hat um sein Leben gebangt. Einen schnöden Regierungssturz bringt man nicht mit dem Leid einer Kriegsgeneration zusammen.

Würden Sie mit Lindner wieder zusammenarbeiten?

Mit Herrn Lindner hätte ich meine Schwierigkeiten, aber eine Zusammenarbeit mit Demokraten darf man nicht grundsätzlich ausschließen.

Was fiel Ihnen in Ihrer Arbeit im Bundestag bisher am schwersten?

Ich habe mich von der Hauptschule hochgearbeitet und bin mit viel Einsatz, aber auch Glück hier angekommen. Wenn ich vorn allein am Pult stehe und eine Rede halte, ist das die größte Kraftanstrengung. Die Architektur des Bundestags, rechts die den Redner überragende Regierung, links die Bundesratsbank, der Blick in den riesigen Saal wie eine Front – das entspricht nicht meiner Vorstellung von einer parlamentarischen Gemeinschaft. Ich würde eine solche Rede lieber aus den Reihen meiner politischen Gemeinschaft, meiner Fraktion, halten und in Richtung des Präsidiums sprechen. Eher so, wie es die Briten machen. Ich würde mich sicherer, aber auch freier fühlen.

Die Union will das System des Bürgergeldes ändern. Das Ungerechtigkeitsgefühl in der Bevölkerung ist groß. Würde sich die SPD da bewegen?

Vielleicht halten sich manche Menschen zu lange im Bürgergeldsystem auf. Und ein Teil der Flüchtlinge aus der Ukraine hat offenbar einen Mehrwert abgeschöpft, der nicht gerechtfertigt ist. Doch in diesem System sind vor allem Menschen, die unsere Unterstützung wirklich brauchen, auch viele Kinder, Alleinerziehende und Menschen mit Handicaps. Unsere Grundidee war und ist, dass Menschen nach ihren Stärken gefördert werden und wieder auf den ersten Arbeitsmarkt kommen. Das soll auch so bleiben. Aber ich finde es richtig, nicht durchgehen zu lassen, wenn jemand das System ausnutzt.

Die SPD will 95 Prozent der Steuerzahler bei der Einkommenssteuer entlasten, das oberste eine Prozent soll zahlen. Wie viel?

Eine höhere zweistellige Milliardensumme.

Was wird aus den Energiepreisen?

Wir müssen so schnell wie möglich verhindern, dass die Energiepreise ins Unermessliche steigen. Die Unternehmen, aber auch die privaten Haushalte können nicht ein halbes Jahr warten. Unser Vorschlag ist, die Netzentgelte auf 3 Cent pro Kilowattstunde zu begrenzen. Das würde in einem ersten Schritt helfen und ist auch noch vor der Wahl machbar, wenn CDU und CSU sich nicht verweigern. In der letzten Woche vor Weihnachten haben wir – trotz des Bruchs der Koalition – eine Menge guter Gesetze beschlossen. Es geht also auch mit wechselnden Mehrheiten. Ich biete der Union an, dass wir Anfang des Jahres darüber reden und noch im Januar im Bundestag darüber entscheiden.

Haben Sie eine Idee, wie die Politik 2025 das Land zusammenhalten kann?

Ich habe kein Passepartout. Ich kann nur sagen: Achtsam sein! Und tapfer.

Warum tapfer, welchen Schmerz haben wir zu befürchten?

In den vergangenen Jahrzehnten gab es viele Krisen, wir müssen nicht immer glauben, dass wir gerade die schlimmste erleben. Auch Generationen vor uns haben viel durchgestanden. Und in diesem Sinne sollten wir uns durch nichts und niemandem verderben und auch nicht entmutigen lassen.

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