Bad Salzuflen. Es ist Herbst, der Himmel ist bedeckt. Ulrich Lange sammelt ein paar Blätter von dem Grab seiner Frau auf. Die frische Brise trägt mehr davon über den städtischen Obernbergfriedhof, lässt sie sanft auf den Grabsteinen niedergehen. Seit 2009, seit dem Tod seiner Frau, kommt der 75-Jährige regelmäßig hierher. Er pflegt ihre Ruhestätte, die seiner Eltern, seiner Schwiegereltern. Eine Routine, die Trost spendet. Ein Ritual der Verbundenheit. Der Waldfriedhof am Südhang des Obernbergs, eingebettet in den Stadtwald, ist ein Ort mit Geschichte. 68.366 Quadratmeter umfasst er – knapp zehn Fußballfelder –, eingeweiht wurde er 1918. Der erste Verstorbene, der hier beigesetzt wurde, war der Maschinenindustrielle Nicolaus F. R. Dürkopp, Gründer der Dürkopp-Werke in Bielefeld, der die letzten Jahre seines Lebens in seiner prunkvollen Villa an der Ecke Extersche Straße/Obernbergstraße verbrachte. Mehr als ein Jahrhundert später hat sich der Friedhof am Obernberg zu einem Ort entwickelt, an dem Familien über Generationen hinweg ihre letzte Ruhe finden wollten. Wollten – denn für einige ist aus diesem Plan nun eine unerfüllbare Hoffnung geworden. Lange hat immer fest damit gerechnet, eines Tages in dem Doppelgrab neben seiner Frau beigesetzt zu werden. Gemeinsam bis zuletzt, wie sie es sich einst vorgestellt hatten. Doch dieser Wunsch, so hat ihm die Stadt mitgeteilt, lässt sich nicht mehr erfüllen. „Wir haben das Grab damals im Glauben gekauft, dass ich hier später ebenfalls meine letzte Ruhe finde“, sagt der 75-Jährige. Die Gewissheit, die er all die lange Zeit hatte, ist zerbrochen. Inzwischen habe sich die Rechtslage geändert: Nach einem Gutachten des Kreises sei eine Erdbestattung auf dem Obernberg nicht mehr zulässig. Nur Urnenbestattungen seien erlaubt. Ein Gutachten verändert alles Die Begründung der Stadt ist nüchtern, formuliert in Verwaltungsdeutsch, das Emotionen keine Sprache gibt. Wie die Stadt in einem Schreiben mitteilt, seien auf dem Friedhof Obernberg keine Sargbestattungen mehr möglich. Ein Gutachten des Geologischen Dienstes NRW habe ergeben, dass die Boden- und Grundwasserverhältnisse eine ordnungsgemäße Verwesung nicht mehr zuließen. Neue Nutzungsrechte für Erdbestattungen würden deshalb nicht mehr vergeben. Bestehende Wahlgrabstätten blieben zwar bestehen, für neue Beisetzungen kämen dort jedoch nur noch Urnen in biologisch abbaubaren Überurnen infrage. Vor zwei Jahren hieß es dazu, dass der Hauptgrund für die Situation die Hanglage des Friedhofs sei. Es sickere viel Wasser den Hügel hinab, sodass der Boden stets feucht sei und nicht gut durchlüftet werde. Diese Staunässe beeinträchtige die Zersetzung. Die Stadt versucht, den Eingriff abzumildern. Sie bietet Betroffenen zwei Optionen an: Entweder wird die vorhandene Grabstätte in ein Urnenwahlgrab mit Platz für bis zu vier Urnen umgewandelt – verbunden mit geringeren Gebühren –, oder die Grabstelle kann vor Ablauf der Ruhezeit gebührenfrei zurückgegeben werden. In diesem Fall muss sie allerdings vollständig geräumt werden. Außerdem stellt die Stadt in Aussicht, auf anderen Friedhöfen wie in Werl-Aspe Sargwahlgrabstätten für die restliche Nutzungszeit zur Verfügung zu stellen. Für Ulrich Lange sind das keine Alternativen. Es sind Zumutungen. „Meine Familie wird auseinandergerissen“ „In meiner Familie ist noch nie jemand verbrannt worden. Ich möchte das auch nicht“, betont der frühere Diplom-Handelslehrer am Friedrich-List-Berufskolleg in Herford. Es geht ihm nicht nur um persönliche Überzeugungen, um religiöse oder weltanschauliche Gründe. Es geht um etwas Fundamentaleres: den Zusammenhalt über den Tod hinaus. Besonders bitter sei für ihn, dass damit auch die Familie auseinandergerissen werde. „Meine Tochter müsste die Gräber meiner Frau, meiner Eltern und Schwiegereltern hier weiter pflegen – und mich irgendwo anders. Das ist unzumutbar.“ Lange wünscht sich eine Ausnahmegenehmigung für die wenigen verbliebenen Familien, die bereits Doppelgräber erworben haben. Doch Hoffnung hat er kaum. „Die Stadt verweist auf Paragrafen, die Verwaltung habe sich festgelegt. Ich sehe wenig Chancen.“ Wenn der letzte Wille nicht mehr zählt Auch Harald Elkers Familie kämpft mit den Folgen der neuen Regelung. Der Bad Salzufler berichtet, dass seine Familie 2005 ein Familiengrab für vier Erdbestattungen auf dem Obernbergfriedhof erworben habe, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, einmal gemeinsam mit der engsten Familie bestattet zu werden. In diesem Jahr habe die Stadt Bad Salzuflen mitgeteilt, dass auf dem Friedhof keine Sargbestattungen mehr erlaubt seien. Was als Versprechen begann – ein gemeinsamer Ort für die letzte Ruhe –, ist nun Makulatur. Besonders schwer wiege für ihn, dass der letzte Wille seines 2005 verstorbenen Vaters nun nicht mehr umgesetzt werden könne. „Es ist für mich völlig unverständlich, wie man seitens der Verwaltung Verträge im Nachhinein einseitig ändert“, sagt Elker. Sowohl für seine 93-jährige Mutter als auch für ihn selbst (72) und seine Frau (70) komme eine Kremierung nicht in Frage. Die Familie empfinde die neue Regelung als „hinterhältig“, weil die langjährigen Pläne für das Familiengrab nun nicht mehr erfüllt werden können. „Ich hätte mir mehr Transparenz gewünscht“ Auch aus der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde kommt Kritik. Pfarrerin Steffie Langenau kritisiert die Informationspolitik der Stadt Bad Salzuflen rund um das Verbot von Sargbestattungen auf dem Obernbergfriedhof als unzureichend. „Ich hätte mir gewünscht, dass das von der Stadt selbst über die Medien öffentlich bekannt gemacht wird“, sagt sie. Das dem Verbot zugrunde liegende Gutachten sei überdies nie vollständig öffentlich gemacht worden. „Ich frage mich, ob eine Teilsperrung des Friedhofs für Erdbestattungen nicht auch ausreichend wäre.“ Langenau berichtet von mehreren Familien, die durch die Einschränkungen auf dem Obernberg-Friedhof stark belastet wurden: „Man kann sich vorstellen, was das für eine Familie bedeutet“, sagt sie über Fälle, in denen Angehörige exhumiert oder auf andere Friedhöfe verlegt worden seien. Andere müssten nun damit leben, dass ein Teil der Familie im Familiengrab, das seit Generationen besteht, beigesetzt worden ist, nächste Angehörige aber in Zukunft auf anderen Friedhöfen bestattet werden müssten. Die Pfarrerin bemängelt zudem die fehlende Transparenz der Stadt: „Wer trägt die Kosten, wenn es Familiengräber gibt, die seit Jahren bezahlt sind und für Erdbestattungen vorgesehen waren? Auch das wird nicht öffentlich kommuniziert.“ Insgesamt melden sich laut Langenau „monatlich zwei bis drei ratlose Gemeindemitglieder“, die von der Situation betroffen sind. Die Antwort der Verwaltung Die Stadtverwaltung Bad Salzuflen sieht sich in einer rechtlich eindeutigen Position. Die Stadt Bad Salzuflen stütze das Verbot von Sargbestattungen auf dem Obernbergfriedhof auf das nordrhein-westfälische Bestattungsgesetz (§§ 3 und 4 BestG NRW) sowie ihre Friedhofssatzung von 2008. Die Einstellung von Sargbeisetzungen sei bereits im Juli 2023 erfolgt, die rechtliche Formalisierung durch Allgemeinverfügung sei am 10. Juli 2024 veröffentlicht worden. Auslöser sei ein Gutachten des Geologischen Dienstes NRW aus dem Jahr 1996 gewesen, das 2023 überprüft worden sei. Es bescheinige dem Obernbergfriedhof ungeeignete Bodenverhältnisse für eine hygienisch einwandfreie Verwesung. Da sich geologische Gegebenheiten nur über sehr lange Zeiträume veränderten, sei eine erneute Untersuchung derzeit nicht vorgesehen. Die Zahlen zeigen das Ausmaß: Betroffen seien nach Angaben der Stadt 744 Nutzungsberechtigte von Sargwahlgräbern. Bislang seien rund 580 Anschreiben versandt worden, knapp 300 Berechtigte hätten sich zurückgemeldet. Etwa 60 Prozent hätten sich für eine Umwandlung ihrer Grabstätte in ein Urnenwahlgrab entschieden. Ausnahmen seien laut Stadt ausgeschlossen. Untersuchungen hätten ergeben, dass es keine praktikablen technischen Lösungen gebe. Als Alternative biete die Stadt Bestattungen auf dem Friedhof in Werl-Aspe an, die Kosten für notwendige Umbettungen übernehme sie. Langfristig solle der Obernbergfriedhof als parkähnlicher Urnenfriedhof erhalten bleiben. Familien könnten weiterhin gemeinsam bestattet werden – allerdings nur noch in biologisch abbaubaren Überurnen. Die Verwaltung betone, man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und sei sich der emotionalen Belastung für die Betroffenen bewusst. Ein Friedhof im Wandel Auf dem Obernbergfriedhof fallen inzwischen wieder Blätter. Der Herbst macht keine Ausnahmen, nicht für Ulrich Lange, nicht für die 744 betroffenen Familien, nicht für die Verwaltung. Nur die Frage bleibt: Was wiegt schwerer – die Paragrafen oder das Versprechen, das einst gegeben wurde, als Menschen hier ihre Grabstätten erwarben? Ulrich Lange wird auch in den kommenden Wochen hierher kommen, das Grab seiner Frau pflegen. Doch die Gewissheit, die ihn all die Jahre begleitete, die ist fort. Und mit ihr ein Stück Würde im Angesicht des Abschieds.