Horn-Bad Meinberg/Detmold. Beim ersten Hinsehen wirkt es wie ein gewöhnlicher Stein. Die Rede ist von einem Reliefstück, das Anfang des Jahres an den Externsteinen abtransportiert worden ist und sich nun in einem Lager des Lippischen Landesmuseums befindet. Bis dahin hatte es seinen Standort im Bereich des Kassenhäuschens, wo die Leute auf ihm herumliefen und es als Lagerfeuerplatz nutzten. Früher muss es einmal ein Teil eines großeren Kunstwerks gewesen sein, insgesamt mindestens fünf Meter hoch – doch vom Rest keine Spur. „Das ist im Grunde ein Knaller“, sagt Museumsleiter Dr. Michael Zelle. Er erzählt, welche Fragen das geborgene Reliefstück aufwirft. Eine davon lautet: Was sagt uns dieser Klotz da? Die Art der Darstellung sei eindeutig aus dem Mittelalter. Unendlich viele Vergleichsmöglichkeiten zeigten, dass es mittelalterliche Kunst sei. Und: „Da wir relativ viele christliche Darstellungen an den Externsteinen haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass es irgendwie damit zusammenhängt“, erläutert Zelle. Das bedeutet: Neben dem bekannten Kreuzabnahmerelief, das sich an dem rechten Felsen am Wasser befindet, muss es noch ein weiteres gegeben haben. Der Stein, so unscheinbar er wirkt, sei hoch spannend. Viele Punkte weisen darauf hin, dass die Externsteine im Mittelalter wichtig waren: „Da gibt es die Grotten, die Möglichkeiten, über die Treppen hochzusteigen und die Felsbearbeitungen, die man erkennt“, zählt der Museumsleiter auf. Beispielsweise das mittelalterliche Grab am Teich, und vor allem das große Kreuzabnahmerelief: „Da kommt man ja nicht dran vorbei. Das ist gewaltig, das Ding.“ Es gelte als die größte freiplastische Reliefskulptur in Nordwesteuropa. Ein Torso ist abgebildet Noch ist das Team des Landesmuseums nicht dazugekommen, den Anfang des Jahres geborgenen Stein zu reinigen. Deutlich sei aber, dass Leute daran gearbeitet haben und ein Torso abgebildet ist. „Wenn man diese Streifen und Vertiefungen sieht, wird klar, dass ein Sandstein sich nicht so entwickeln würde“, erklärt Zelle. Er weist auf die Unterseite der Skulptur hin: „Es gibt senkrechte Strukturen und das, was hier rum schwingt – das ist ein langes Gewand, was nach unten hängt.“ Das Gewand gehe bis zu den Füßen: „Das ist eine Zierborte, die man auf anderen Darstellungen auch sehen kann.“ Der Museumsleiter zückt einen Zollstock und misst das Reliefstück. Der Stein ist rund 1,30 Meter breit und 90 Zentimeter hoch: „Das ist ja noch weit unterhalb der Knie – das heißt, das ist vielleicht ein Fünftel der Körpergröße. Also muss das Ding mindestens fünf Meter groß gewesen sein.“ Methodik der Wissenschaftler In einem Geschichtsbuch sucht er nach ähnlichen Skulpturen, die aus einer ähnlichen Zeit stammen – und vergleicht sie mit dem Relief-Torso: „Es gibt so viele Vergleichsbeispiele, dass man da relativ sicher sein kann“, sagt Zelle und demonstriert damit, wie Kunsthistoriker arbeiten würden. „Wir haben ganz viele Dinge im Kopf, weil man so viel gesehen und Literatur gewälzt hat. Das ist eben Teil des Fachwissens, mit solchen Dingen umgehen zu können.“ So kommt die Wissenschaft laut dem Museumsleiter auch nicht auf krude Ideen: „Es ist wichtig, dass man nicht irgendwas behauptet, sondern dass es für andere durch eine bestimmte Methodik nachvollziehbar ist.“ Das Relief könne durch stilistische Merkmale eingeordnet werden: „Wenn man keine Urkunde hat, wo steht, dass es gebaut wurde, dann gucken wir, wie die Gesichter der Skulptur gemacht worden sind.“ So könnten Kunsthistoriker und Archäologen eine zeitliche Eingrenzung formulieren. Das geborgene Relief lande damit ungefähr im 12. Jahrhundert. Große Geschichten rund um die Steine Die Externsteine werden oft mit großen Geschichten in Verbindung gebracht werden. Allerdings sind laut dem Museumsleiter nur das Mittelalter und die Neuzeit belegbar. Wissenschaftler nehmen an, dass das Kloster Essen-Werden Sitzrechte für die Externsteine gehabt hat und dass die Leute auf Reisen dort Station gemacht haben. Aus dem Hofkloster in Paderborn gibt es auch Quellen aus dem 14. Jahrhundert. Darin steht aber, dass die Steine viel früher in deren Klosterbesitz waren. „Wir kennen klare Verwaltungsstrukturen mit bestimmten Grenzen und Bezirken – das ist nicht immer so gewesen“, erklärt Zelle. Früher seien oft Fälschungen erstellt worden, um Besitztümer zu bekommen. Später sei die Felsformation in den lippischen Besitz übergegangen: „Wir wissen durch verschiedene Nachrichten, dass es ab dem Spätmittelalter in den Besitz der lippischen Grafen gegangen sein muss.“ Die Familie hat dort ein Jagdschloss errichtet, im Stil einer Burganlage. Später hat Fürstin Pauline das Gelände zu einem romantischen Ort umgebaut. Dabei wurde auch der Teich am Fuße der Steine angelegt. Im späten 19. Jahrhundert sind Hotelanlagen und Straßenbahnlinie dazugekommen, die nach Horn geführt hat. „Das war so eine schöne, lange Kastanienallee“, erzählt Zelle. Die letzte Kastanie sei heute noch auf der Wiese vor den Externsteinen, zu sehen. Das Kreuzabnahmerelief Ein Grund dafür, dass das Kreuzabnahmerelief dort platziert worden ist, könnte ihre Lage als verkehrstechnisch wichtiger Punkt gewesen sein. Die heutige B1 verläuft laut dem Museumsleiter auf einer Verkehrsstraße, die seit Jahrtausenden eine Rolle spielt. Auch die Maria-Darstellung sei von Bedeutung – und damit sei man relativ nahe am Edelherrn Bernhard II. zur Lippe, denn Maria sei für ihn eine wichtige Heilige gewesen. „Bernhard II. war ein internationaler Player. Er war der Gründer von Lemgo und Lippstadt und baute auch die Falkenburg. Wenn man überlegt, wer so etwas hätte tun können, dann landet man bei ihm“, erklärt Zelle. Überregionale Kontakte, Geld und Motivation wären nötig gewesen, gerade an einem solch abgelegenen Platz. Das geborgene Reliefstück deute darauf hin, dass es neben dem Kreuzabnahmerelief noch andere Arten der Darstellungen gegeben hat: „Sie sehen ja auch die Größe – das ist über lebensgroß.“ Wo die ganze Reliefskulptur angebracht war, wisse er nicht. „Wir können nicht sagen, ob das durch die Ausgrabung in den 1930er-Jahren abgelegt wurde und liegen geblieben ist“, rätselt er. „Aber da das ein ziemlich fetter Block ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es im Verbund mit einem dieser Hauptfelsen war, schon relativ groß.“ Er werde da sicherlich noch mal nachforschen.