„Auschwitz-Prozess“ in Detmold offenbart Gräueltaten der Nazis

Detmold. Fünf aus 20: Boger, Mulka, Kaduk, Capesius, Stark. Namen, die kaum noch jemand mit dem schwärzesten Kapitel der deutschen Geschichte zusammenbringt. Fünf SS-Männer, die wegen ihrer grausamen Verbrechen im Vernichtungslager Auschwitz während des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses Mitte der 1960er-Jahre zusammen mit 15 anderen auf der Anklagebank im Frankfurter Römer saßen. Peter Weiß hat für sein dokumentarisches Theaterstück &bdquo;Die Ermittlung“, das jenen Auschwitzprozess nachzeichnet, diese fünf Charaktere exemplarisch ausgewählt.

130 Minuten - schwer auszuhalten In Detmold hat das Trias-Theater aus Gelsenkirchen das Stück, das 1965 uraufgeführt wurde, in einer gestrafften Form (Regie: Jens Dornheim) zur Aufführung gebracht. 130 Minuten, die angesichts der Schilderungen der Gräueltaten im Vernichtungslager Auschwitz gerade noch auszuhalten sind.

Dicht gedrängt sitzt das Publikum an diesem Abend im Saal 143 des Detmolder Landgerichts. Normalerweise ist das Interesse an Gerichtsverhandlungen hier weniger groß – doch mehr als 300 Menschen hätten sich um eines der kostenlosen Tickets beworben, berichtet Landgerichtspräsidentin Gisela Nagel, &bdquo;eine bemerkenswerte Resonanz angesichts des schweren Themas“. Nagel erinnert an die historische Bedeutung des Saals, in dem der lippische Landtag auch nach den Wahlen 1933 tagte. Damals wurde die NSDAP mit 39,5 Prozent der Stimmen stärkste Partei.

Dann betreten die Angeklagten, allesamt gekleidet in weißen Gefängnis-Overalls, gemeinsam mit ihrem Verteidiger den Raum. Gegenüber nimmt der Staatsanwalt Platz. Ein Bühnenbild gibt es nicht – und braucht es auch nicht, der historische Gerichtssaal ist Kulisse genug für diesen außergewöhnlichen &bdquo;Prozess“.

14 namenlose Zeugen

Es dauert nicht lange, schon fühlt sich das Publikum angesichts der authentischen Darstellung der Schauspieler tatsächlich wie in einer Verhandlung. 14 namenlose Zeugen gibt es, sie alle sind Auschwitz-Überlebende, die allein, zu zweit oder zu dritt den Saal betreten.

Sie tragen das gleiche Outfit – beige Overalls, die in ihrer Uniformität an Lagerkleidung erinnern. Sie wenden dem Richter den Rücken zu, stehen vor den Zuschauerreihen, vom Leben gezeichnet, aschfahl, und berichten ruhig, nüchtern und sachlich, von den Grausamkeiten, die sie gesehen oder am eigenen Leib gespürt haben. Vereinzelt ist in einer gebrochenen Stimme, der Gestik und Mimik eines Zeugen Verzweiflung zu spüren, der psychische Ausnahmezustand, den die Erinnerung an die brutalen Facetten der Menschenvernichtung auslöst. Die Atmosphäre im Saal ist beklemmend.

Das Stück trägt den Beinamen &bdquo;Ein Oratorium in elf Gesängen“. In elf Kapiteln wird der Alltag in verschiedenen Stationen und Bereichen des Vernichtungslagers geschildert: &bdquo;Zu allen Seiten wurde gestorben, das war normal, und normal waren auch das Absterben der eigenen Empfindungen und der bevorstehende eigene Tod“, beschreibt eine Überlebende den ungeheuerlichen Vorgang der totalen Entmenschlichung.

Fußtritt gegen das Neugeborene

Die Zeugen berichten von der Tötung eines Neugeborenen durch einen Fußtritt kurz nach der Ankunft eines Transports in Auschwitz auf der Rampe, der Erschießung argloser Kinder, &bdquo;verschärften Vernehmungen“ mit Hilfe eines Folterinstruments namens &bdquo;Schaukel“, Massen-Erschießungen an der &bdquo;Schwarzen Wand“, Menschenversuchen, künstlichen Schwangerschaften und Abtreibungen im siebten Monat, Massentötungen durch Phenolspritzen ins Herz. Nach der Vergasung hätten Tausende Körper ineinander verkeilt auf dem Leichenhaufen gelegen: &bdquo;Unten die kleinen Kinder, dann die Frauen, oben, nahe der Tür die Stärksten; und alles voller Ausscheidungen – Erbrochenem, Urin, Kot, Menstruationsblut.“

Sie werfen den Angeklagten ganz konkrete Taten vor: Hat Wilhelm Boger der auch den Beinamen &bdquo;die Bestie von Auswitz hatte“, Insassen bei Verhören gefoltert und mit einem Ochsenziemer geschlagen? War Apotheker Viktor Capesius an der Rampe für Selektionen verantwortlich, hat er zusammen mit Josef Mengele Experimente an Menschen durchgeführt und sich bereichert, in dem er sich mit dem Zahngold der Toten nach dem Krieg eine Existenz aufgebaut hat? Und war Hans Stark, der schon mit 16 mit Einwilligung seines Vaters in die SS eintrat, einer der brutalsten Wachmänner in Auschwitz, der an Vergasungen und Erschießungen teilnahm und Kinder ertränkte? Stimmt es, dass Robert Mulka als Adjutant des Lagerkommandeurs Rudolf Höß das Zyklon B für die Vergasungen beschafft hat, Transporte in die Gaskammern organisierte und Selektionen an der Rampe vornahm?

Die Angeklagten und ihr Verteidiger versuchen, sich herauszureden, die Geschehnisse zu leugnen oder mindestens zu relativieren, sich auf Erinnerungslücken zu berufen oder die Zeugen zu diskreditieren – Boger will niemanden erschlagen haben, Mulka behauptet, die einen Fuß in das Vernichtungslager gesetzt zu haben. Währenddessen versuchen die Angeklagten und ihr Verteidiger, sich herauszureden, die Geschehnisse zu leugnen oder mindestens zu relativieren, sich auf Erinnerungslücken zu berufen oder die Zeugen zu diskreditieren.

&bdquo;Wir waren alle in einer Zwangsjacke“, &bdquo;Wir wären selbst an die Wand gestellt worden, wenn wir uns geweigert hätten“, &bdquo;Uns wurde das Denken abgenommen“, &bdquo;Ich habe niemanden selbst getötet, sondern nur beaufsichtigt, dass die Befehle ausgeführt wurden“, &bdquo;Wir waren doch Nummern wie die Häftlinge“ – so rechtfertigen sich die Männer, die als Adjutant des Lagerkommandanten, Apotheker, Blockführer oder Verantwortlicher in der politischen Abteilung tausendfach mordeten, auf Nachfrage des Richters.

Das ist keine Fiktion

Im Saal ist es still. Das Publikum, darunter viele lippische Juristen, ist geschockt von den Schilderungen, wohl wissend, dass sie eben keine Fiktion sind. Die Nazi-Diktatur, der Rassen-Wahn und der Faschismus haben zum totalen Verlust der Menschlichkeit geführt.

Gut zwei Stunden ohne Pause sind um. Das Publikum klatscht zunächst zögerlich – es gilt, diese ganz besondere schauspielerische Leistung zu würdigen, aber darf man Beifall spenden für die schonungslosen Schilderungen des Holocaust? Doch dann wird der Applaus heftiger, fast so, als wollten sich die Zuschauer selbst in die Gegenwart zurückholen. Die Bilder im Kopf aber bleiben, sie wirken nach. Ebenso wie die Erkenntnis, dass ein 60 Jahre altes Stück aktueller denn je ist.

Dass das Trias-Theater nur eine Vorstellung in Detmold gegeben hat, ist bedauerlich. Diese besondere Form der Erinnerungskultur hat ein weitaus größeres Publikum verdient und ist es wert, an Schulen gezeigt zu werden. Authentischer kann Geschichtsunterricht nicht sein.

„Auschwitz-Prozess“ in Detmold offenbart Gräueltaten der Nazis

Landgericht Detmold präsentiert Theaterstück zum Auschwitz-Prozess im Sitzungssaal

Ölspur verschmutzt mehrere Straßen in der Detmolder Innenstadt

Weihnachtsmarkt in Detmold: Wird der Schloßplatz rechtzeitig fertig?

Karsten Strack präsentiert in Detmold seinen Debüt-Kriminalroman

Von Briten und Deutschen: Christian Schulte-Loh räumt in Detmold mit Klischees auf

„Eine Katastrophe“: Pendler klagen über Schienenersatzverkehr von Detmold nach Bielefeld