Geschändet und gefüttert: Wie diese Extertalerin die Nachkriegszeit in Schlesien erlebte

Extertal. Wenn man nur intensiv genug betet, flehentlich - muss Gott diese Gebete dann nicht erhören? Maria Schultz war als kleines Kind fest davon überzeugt. Als die Rote Armee gen Westen vorrückt, versammeln sich alle Frauen in Görtelsdorf im Schwesternhaus, um den Rosenkranz zu beten. Maria, damals sechs Jahre alt, muss die Mutter begleiten. &bdquo;Ich war sicher: Der liebe Gott lässt nicht zu, dass die Russen kommen“, erzählt sie. Doch wenig später ruft der Vater sie vors Haus und deutet auf den Hügel. Da sieht sie die Panzer anrollen.

Traurig und versöhnlich

Viel Glück hat die Familie der heute 86-jährigen Extertalerin gehabt - aber es gab auch Unglück, Verhaftungen und Vergewaltigung und immer wieder bedrohliche Momente. Dennoch sagt die pensionierte Grundschullehrerin heute: &bdquo;Unsere Geschichte ist traurig, hat aber auch viel Versöhnliches.“

Die unbeschwerte Kindheit in dem kleinen Görtelsdorf (heute Gorzeszów) am Rande des Riesengebirges nimmt ein jähes Ende, als die russischen Panzer 1944 am Horizont auftauchen. Maria lebt mit ihren vier Geschwistern und den Eltern in dem gerade erst renovierten Haus am Rande des schlesischen Dorfes. Ein Bruder ist noch im Krieg, als Hitlerjunge hatte er sich mit 17 freiwillig gemeldet, weil er von &bdquo;der Sache“ überzeugt war.

Dann kommen die Russen. Die Frauen flüchten und verstecken sich. Uhren und Schmuck hätten die Soldaten gefordert, und Fahrräder: &bdquo;Dabei waren die meisten Mongolen. Die konnten gar nicht Fahrrad fahren. Die kippten einfach um“, erinnert sich Maria Schultz. Gegen andere Gelüste hat die Mutter etwas - gefunden kurz zuvor vorm Haus und schnell in Sicherheit gebracht: Ein Fass mit Alkohol, das die abziehende Wehrmacht achtlos in den Garten geworfen hat. Nun schenkt sie den Russen ein - und die seien zunächst einmal zufrieden gewesen, selbst als es keinen Alkohol mehr gegeben habe: &bdquo;Dann hat meine Mutter eine große Pfanne mit Eiern aufgetischt.“

Familie droht die Erschießung

Der Vater ist gelernter Zimmermann, nie in der Partei gewesen und aus dem Ersten Weltkrieg kriegsversehrt zurückgekehrt - deshalb wurde er nicht eingezogen. Für die Russen kein Problem, obwohl deren Angst vor Partisanen groß gewesen sei. &bdquo;Mein Vater hatte mit meinem Bruder kurz zuvor noch einen Gefechtsstand gebaut. Und als die Russen den entdeckten, musste sich die ganze Familie aufstellen, uns drohte die Erschießung“, schildert Maria Schultz eines der traumatischen Erlebnisse. Als die Soldaten jedoch merken, dass weder Widerstandskämpfer noch Waffen in dem Graben zu finden sind, habe sich die Situation entspannt.

Immer wieder erlebt die kleine Maria, wie skrupellos die Siegermacht mit den Zivilisten umgeht - und doch wird am Ende alles gut. Fast. &bdquo;Die Russen hatten auch Sehnsucht nach Zuhause, das hat man gemerkt. Meine kleine Schwester war ein blonder Lockenkopf. Die haben sie abwechselnd auf den Arm genommen und mit Butterbroten gefüttert.“ Marias Glück: Was übrig bleibt, und das ist viel - kleine Kinder haben kleinen Appetit -, bekommt sie ab.

Doch wenn die Russen betrunken gewesen seien, seien sie brutal vorgegangen. Einmal hätten zwei ihre 18-jährige Schwester entdeckt. Die habe sich noch im Kornfeld verstecken können, doch die Betrunkenen hätten nicht locker gelassen: &bdquo;Sie haben gerufen: Pani, Pani (russisch für Frau, Anm. d. Red), mir die Pistole auf die Brust gesetzt und gedroht, mich zu erschießen.“ Die Eltern hätten gebettelt und gefleht, doch schließlich die Schwester gerufen, die sei gekommen. Die Männer nehmen sie mit und schließen sich mit ihr ein.

Die Schwester geschändet

Das Erlebnis kann Maria Schultz nicht vergessen. Jahrzehnte später spricht sie ihre Mutter darauf an: &bdquo;Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass meine Schwester wegen mir geschändet worden ist.“

Weil das Haus ihrer Familie am Dorfrand liegt, richten die Russen dort drei Feldküchen ein. &bdquo;Die Frauen aus dem Dorf mussten dort kochen, die Offiziere wohnten in unserem Wohnzimmer. Damit hatten wir einen gewissen Schutz“, erinnert sich die Seniorin. Und auch zu essen habe es dadurch immer genug gegeben: Denn die Familie mit den fünf Kindern ist ausgewählt, die Speisen vorzukosten, um sicherzugehen, dass kein Gift untergemischt worden ist.

Als die Russen abziehen, kommen die Polen - ebenfalls Vertriebene aus Galizien, wie Maria Schultz berichtet. Doch die Polen hätten die Unterdrückung fortgesetzt: &bdquo;Wir hatten Kühe, aber alles wurde beschlagnahmt und abgeholt.“ Einmal sei es ihrer Mutter zu bunt geworden und sie habe sich widersetzt. Als die Miliz kommt, um sie abzuholen, habe sich die Polin, die bei ihnen wohnt, gegen die Verhaftung gestemmt: &bdquo;Sie hat ihre Kinder geholt und gesagt, wenn die Frau mitgenommen werde, würden sie alle mitgehen“, erinnert sich Maria Schultz an das beherzte Auftreten von Karuschka Kania. Die Drohung hat Erfolg - die Miliz zieht ab: &bdquo;Und wieder hatten wir Glück, wir hätten meine Mutter sonst nie weder gesehen“, ist die 86-Jährige überzeugt.

Couragiert sei ihre Mutter gewesen und habe sich nicht einschüchtern lassen: Immer wieder sei es ihr gelungen, Lebensmittel beiseite zu schaffen: Ein Stück Butter habe sie beim Buttern unter ihrer Schürze versteckt, ein bisschen Milch beim Melken abgezwackt. Sogar einen Braten habe sie aus dem Keller geholt. Nahrungsmittel, die ihr Bruder am Abend zu den Nachbarn schaffte, die hungern mussten, weil sie keine Tiere hatten.

Von der Miliz verhaftet

Einmal sei der 16-Jährige bei so einer Aktion erwischt worden - schließlich galt für Deutsche am Abend Ausgangssperre und durch eine weiße Armbinde seien sie auch in der Dunkelheit gut zu erkennen gewesen. Die Miliz habe ihn verhaftet. &bdquo;Doch der Pole, der bei uns wohnte, mochte meinen Bruder - vielleicht, weil sie beide Josef hießen und mein Bruder ihm bei allem half.“ Er habe ihn aus dem Gefängnis geholt und ihm das Leben gerettet.

&bdquo;Wir hatten wirklich immer Glück. Andere sind geschlagen und ausgeplündert worden“, resümiert Maria Schultz die Zeit in der alten Heimat. Hart war sie trotzdem. Warum ist die Familie nicht geflüchtet wie so viele andere? &bdquo;Mein Vater hat seine Heimat geliebt, der wäre nie freiwillig gegangen“, ist sie überzeugt.

Doch dann helfen die Polen nach: Mitten in der Nacht sei die Miliz gekommen, die Deutschen müssen ihre Häuser verlassen: &bdquo;Meine Mutter hat gesagt, ich soll einpacken, was ich mitnehmen will.“ Die inzwischen Siebenjährige packt eine handbemalte Porzellantasse in den Tornister, der von ihrer kurzen Schulzeit kaum benutzt ist. Dann geht es mit dem Zug gen Westen, tagelang mit 30 Leuten eingepfercht in einen Viehwaggon, mit einem Eimer für die Notdurft in der Ecke.

&bdquo;Als wir schließlich in Marienborn ankamen, gab es endlich Wasser. Ich wollte mit meiner Tasse über den Platz laufen, fiel hin, und die Tasse zerbrach in tausend Teile.“ Ein alter Mann habe sie getröstet: &bdquo;Scherben bringen Glück“, habe er gesagt.

Alles Zigeuner

Wenig später geht die Reise weiter, erst nach Lemgo, dann nach Extertal, wo sie in einem verlassenen, leeren Haus im abgelegenen Hohensonne unterkommen. &bdquo;Ich weiß noch, wie wir in Lemgo ankamen und eine Kommission den Zug abschritt und sagte: &bdquo;Zigeuner. Alles Zigeuner.“ Die Lipper hätten gar nichts über den Hintergrund der ankommenden Dorfbewohner gewusst - viele hätten gemeint, sie hätten Hitlers Front im Osten verraten.

In der neuen Heimat Fuß zu fassen, sei nicht leicht gewesen. Die Vertriebenen haben nichts und werden selbst in der Schule oftmals benachteiligt: &bdquo;Wir waren einfach nichts wert.“ Dennoch beißt sich Maria Schultz durch: &bdquo;Ich habe schon früh begriffen: Wenn ich anerkannt werden will, muss ich lernen. Besitz ist Tand. Deshalb fällt es mir auch gar nicht schwer, mich von Sachen zu trennen“, sagt die pensionierte Grundschullehrerin. Nur ein Bild ist ihr lieb und teuer: Hinter zwei Bäumen lugt ein großes Haus hervor - das Haus ihrer Familie in Schlesien, gemalt von einer hiesigen Malerin nach einem alten Foto. Es ist das Einzige, was ihr aus der alten Heimat geblieben ist.

Fluchtgeschichten gesucht

Egal ob aus Schlesien oder Ostpreußen, aus der ehemaligen DDR oder Ostblockländern oder sonst wo auf der Welt: Wenn Sie Ihre Fluchtgeschichte erzählen wollen, melden Sie sich unter sbuhrmester@lz.de oder unter Tel. (05231) 911-150.

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