Zwischen Verarbeitung und Stolz: Drei junge Lipper über ihren Weg aus der familiären Krise

Kreis Lippe. Sie lachen, scherzen miteinander - und plötzlich blitzt der pure Sarkasmus durch, Enttäuschung über das, was ein jeder von ihnen erlebt hat. Drei junge Erwachsene sitzen an diesem Nachmittag in einem Besprechungsraum. Bis dahin kannten sie sich nicht, und doch ähneln sich ihre Geschichten, so unterschiedlich sie auch sind. Denn alle drei hat die Jugendhilfe ein Stück weit auf ihrem Lebensweg begleitet. Und alle drei sagen heute: Das war gut so.

Jessica Da ist Jessica, mittlerweile 26 Jahre alt, die Soziale Arbeit studiert. Eine aufgeweckte, fröhliche junge Frau. &bdquo;Eigentlich wollte ich immer was mit Tieren machen“, sagt sie lachend, Soziale Arbeit sei nicht Plan A gewesen. Doch Tiere heben und schwer tragen ginge nicht, &bdquo;ich kümmere mich gern, dann eben um Kinder und Jugendliche“. Sie lächelt, ihre Augen blitzen verschmitzt.

Jessica ist im SOS-Kinderdorf Lippe in Schwalenberg aufgewachsen, und als sie von ihrer &bdquo;Kinderdorfmutter“ erzählt, strahlt sie. &bdquo;Wie haben noch heute einen ganz engen Kontakt, ich habe immer sehr an ihr gehangen.“ Und sie wohl auch an &bdquo;ihren“ Kindern, denn selbst die freien Tage habe sie häufig mit ihnen verbracht, erzählt Jessica.

Mit einem Jahr ist die heute 26-Jährige ins Kinderdorf gekommen, zusammen mit ihren zwei älteren Brüdern. Der Vater Alkoholiker, die Mutter litt an Depressionen. &bdquo;Sie haben die Unterschrift freiwillig gegeben“, weiß sie aus Erzählungen, &bdquo;ansonsten wären wir halt raus genommen worden.“ Doch wie war das für sie, im Kinderdorf aufzuwachsen? &bdquo;Es war normal, Standard. Und es war auch toll, immer war jemand zum Spielen da.“ Sie lächelt. In der Grundschule seien viele aus dem Kinderdorf gewesen, in der Realschule dann zwar nicht mehr, aber es sei auch nie Thema gewesen.

Kontakt zu den leiblichen Eltern und Geschwistern hatte sie sowohl als Kind, wie auch heute. Der Mutter sei wichtig gewesen, dass die drei Kinder zusammenbleiben, und darüber sei Jessica im Nachhinein froh. Der Kontakt zum Vater sei ganz gut, &bdquo;er ist trocken und gibt sich Mühe“, sagt sie, auch wenn er seinen Körper kaputtgemacht habe. Und in diesen Worten schwingt Enttäuschung mit. Doch ihre Vertraute, das sei die Kinderdorfmutter. &bdquo;Bei ihr übernachte ich heute“, sagt sie lachend.

Vanessa* Vanessa* (*Name geändert) ist mit 16, knapp 17 Jahren aus ihrem Elternhaus raus. Freiwillig, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder. Doch was treibt ein Kind zu diesem Schritt? &bdquo;Es ging nicht mehr“, sagt sie achselzuckend. Und die Entscheidung habe sie sich nicht leicht gemacht, das habe gedauert, &bdquo;ich hatte auch immer diesen Gedanken: ,Das Jugendamt ist böse.’“ Heute wisse sie es besser.

Und dabei seien sie und ihr Bruder eigentlich in einer perfekten kleinen Familie aufgewachsen, sie lächelt bei der Erinnerung und berichtet von Filmabenden, gemeinsamen Aktivitäten. &bdquo;Das war schön, für mich perfekt.“ Bis die Eltern - wieder, wie sie später erfährt - im Alkohol versinken. &bdquo;Von da an ging alles bergab“, erzählt sie sichtbar traurig.

Immer häufiger habe es Kontakt zum Jugendamt, zur Familienhilfe gegeben, eines Tages seien sie und ihr Bruder zur älteren Schwester abgehauen, weil sie es zu Hause nicht mehr aushielten. Und irgendwann seien dann beide Kinder raus, zuerst in eine Wohngruppe, &bdquo;doch mir ging es da gar nicht gut, mir ist alles zu viel geworden“, sie blickt zu Boden. Sie wollte woanders hin und zog in die Wohngruppe der Fürstin-Pauline-Stiftung. &bdquo;Da fühle ich mich wohl.“

Noch wohnt Vanessa auch dort, habe einen guten Draht zu den Betreuern, wie die heute 19-Jährige sagt. Sie arbeitet mittlerweile selbst als Kinderpflegerin in einer Kita - und liebt ihren Job. Inzwischen habe sie auch einen guten Kontakt zu ihrem Vater, sei an den Wochenenden regelmäßig bei ihm. &bdquo;Er ist trocken“, sagt sie und strahlt, doch im nächsten Moment trübt sich ihr Blick. Die Mutter nicht, und die, so wie sie früher war, die fehle ihr.

Marcel In der Familie von Marcel habe Gewalt eine große Rolle gespielt, wie der zurückhaltende 20-Jährige erzählt. Er berichtet fast schon abgeklärt von seiner Vergangenheit, den Erlebnissen, die dazu führten, dass auch er freiwillig in die Jugendhilfe-Einrichtung ging. Von seiner Mutter habe er psychische und emotionale Misshandlungen erfahren, beschreibt, wie er beschimpft worden sei und zum Teil auch körperlich angegangen, wie sich Geschwister und Eltern geprügelt haben.

Irgendwann ließen sich die Eltern scheiden, auch der Vater habe Gewalt von seiner Frau erfahren. &bdquo;Und dann wurde die Gewalt meiner Mutter unbegrenzt“, Beleidigungen seien für ihn normal gewesen, er habe immer häufiger Angst in den eigenen vier Wänden verspürt.

Als es eines Tages völlig eskaliert sei - Marcel war 16 - habe er die Polizei gerufen, den Beamten die Situation erklärt, seine Angst beschrieben - &bdquo;und dann haben sie mich da raus geholt“, er wirkt noch heute erleichtert. Nach einer kurzen Zeit in Obhut wollte er in die Grabbe-WG der Fachinstitute Blauschek. &bdquo;Da war mein älterer Bruder auch, ich kannte die Betreuer, das war für mich ein sicherer Ort“, erinnert er sich und lächelt.

Anderthalb Jahre war er dort, dann wechselte er in ein sozial-pädagogisch betreutes Wohnen und vor Kurzem zog Marcel in seine eigene Wohnung, wie er stolz berichtet. Ist &bdquo;verselbstständigt“, wie es im Fachjargon heißt. Und macht derzeit eine Ausbildung zum Erzieher. Sein Ziel: &bdquo;In einer Wohngruppe arbeiten“, er lacht. Kontakt zur Mutter habe er nicht und den wolle er auch nicht, zu viel sei passiert, sagt er hart. Zum Bruder habe er regelmäßig und guten Kontakt, ebenso zum Vater. Und ja, er habe ihm übel genommen, dass er damals gegangen sei und ihn bei der Mutter gelassen habe. Heute aber könne er vieles verstehen, sagt er milde.

Wünsche Drei völlig verschiedene junge Menschen, und doch bemerken sie Gemeinsamkeiten: Die Mutter, die die Opferrolle einnimmt und die Schuld bei anderen sucht, zu der der Kontakt schlechter oder nicht vorhanden ist. Alkohol, Depressionen, Gewalt, Angst. Aber auch Stolz: Stolz darauf, was sie geschafft haben, aus der Situation rausgekommen zu sein, die Vergangenheit anzunehmen, sie aufzuarbeiten, nach vorne zu blicken.

Was sie sich wünschen? &bdquo;Mein Studium erfolgreich beenden“, sagt Jessica, Vanessa möchte &bdquo;eine eigene heile, gesunde Familie aufbauen“ und Marcel erklärt: &bdquo;Mich weiterentwickeln und irgendwann stabil im Leben stehen.“ Und alle drei lächeln in diesem Moment.

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