Zwischen Zittern und großen Emotionen: Chronik des Lügde-Prozesses

Detmold. Seit knapp zwei Monaten fordert der Lügde-Prozess um den massenhaften Kindesmissbrauch auf dem Campingplatz Eichwald in Elbrinxen das Landgericht Detmold. Trotz der Erleichterung über die überraschenden Geständnisse zum Prozessauftakt kam es immer wieder zu kritischen Momenten, die das Verfahren hätten platzen lassen können. Am Donnerstagmorgen soll das Urteil gegen Andreas V. und Mario S. verkündet werden. Die beide Angeklagten erwarten lange Haftstrafen. So lief der Prozess bisher:

Auftakt (27. Juni) Erleichterung unter allen Prozessbeteiligten: Überraschend legen alle drei Angeklagten am ersten Verhandlungstag Geständnisse ab. Damit müssen die Kinder nicht mehr zwangsläufig aussagen. Die Jugendschutzkammer unter dem Vorsitz von Anke Grudda möchte dennoch einige im Saal befragen, um sich einen Eindruck davon zu machen, wie es den Opfern heute geht. Die Kinder können dies aber frei entscheiden.

Prozesstag 2 (28. Juni) Die ersten Zeugen sagen aus. Als erstes wagt eine junge Frau den Gang vors Gericht. Sie ist 19 Jahre alt und als Kind von Andreas V. auf schlimmste Weise missbraucht worden. Ein paar Mal soll Heiko V. dabei über die Webcam zugeschaut haben. Durch die Aussage der jungen Frau kamen die Ermittler überhaupt erst auf die Spure des 49-Jährrigen. Die junge Frau möchte ihre Aussage vor Gericht vor den Augen der Angeklagten machen, teilt ihre Anwältin Zeliha Evlice mit: &bdquo;Sie will zeigen, dass die Männer keine Kontrolle mehr über ihr Leben haben." Andreas V. möchte den Saal dennoch verlassen, teilt sein Verteidiger Johannes Salmen mit. Er soll sich das ruhig anhören, meint die Vorsitzende. "Das hier ist kein Wunschkonzert", sagt Richterin Anke Grudda. Das Verfahren gegen Heiko V. wird am zweiten Prozesstag abgetrennt. Prozesstag 3 (4. Juli) Während der dritte Prozesstag vor dem Landgericht weiter verhandelt wird, durchsuchen Ermittler der EK Eichwald eine weitere Parzelle auf dem Campingplatz. Ein 57-jähriger Camper steht wegen sexuellen Missbrauchs unter Verdacht. Der Steinheimer zählte bis dahin nicht zu den Beschuldigten im Lügde-Komplex, erst durch die Vernehmung eines minderjährigen Opfers sind die Ermittler laut eigenen Angaben auf ihn aufmerksam geworden. Nach LZ-Informationen soll es sich bei dem neuen Beschuldigten um einen langjährigen Freund von Mario S. handeln, dessen Enkelkinder teilweise selbst zu den Opfern im Fall Lügde zählen. Vor Gericht sagt unterdessen die leibliche Mutter des Pflegekindes aus. Sie möchte zu ihrer Tochter nun langsam wieder Kontakt aufbauen, sagt sie.

Prozesstag 4 (5.Juli) Zum ersten Mal hört die Kammer ein Mädchen, an dem sich sowohl Andreas V. als auch Mario S. vergangenen haben sollen. Sie ist zehn Jahre alt und fühlt sich durch die bevorstehende Aussage enorm unter Druck gesetzt, teilt ihre Anwältin Anke Reese mit. &bdquo;Komme ich jetzt ins Kindergefängnis?", soll das Mädchen gefragt haben. Alle Kinder sagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus.

Anzeige (9. Juli) Der 56-jährige Dauercamper Andreas V. stellt Strafanzeige gegen die Mutter eines Opfers. Die Frau aus Bad Pyrmont soll von Andreas V. Geld für ihr Schweigen verlangt haben, sagt der Dauercamper. Die Mutter bestreitet die Vorwürfe. Sie hatte mit ihrer Anzeige die Ermittlungen gegen Andreas V. überhaupt erst ins Rollen gebracht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Prozesstag 5 (12. Juli) Das ehemalige Pflegekind macht seine Aussage gegen Andreas V.. Obwohl der Dauercamper der heute Achtjährigen Unvorstellbares angetan hat, hat das Mädchen immer noch viele gute Erinnerungen an ihren ehemaligen Pflegevater, sagt Opferanwalt Cornelius Pietsch, der das Mädchen vertritt. 132 soll Andreas V. das Kind missbraucht haben. Darüber hinaus war das Kind sein Lockvogel, um an andere Kinder heran zu kommen.

Urteil gegen Heiko V. (17. Juli) In einem separaten Termin fällt das Urteil gegen Heiko V.. Der 49-Jährige aus Stade wird zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Er kann das Gericht als freier Mann verlassen. Die Nebenklägerin – eine heute 19-jährige Frau – nimmt das Urteil fassungslos im Saal entgegen. Die Staatsanwaltschaft geht einen Tag später in Revision. Das Urteil wird öffentlich heiß diskutiert. Die Meinungen gehen weit auseinander.

Prozesstag 6 (1. August) Weil Andreas V. vorläufig verhandlungsfähig ist, kann der Prozess an Tag 6 nur gegen Mario S. weiter geführt werden. Der 56-jährige Dauercamper wird wegen einer Gürtelrose, wie später bekannt wird, im Justizkrankenhaus Fröndenberg behandelt. Die Verfahren gegen beide verbliebenen Hauptangeklagten werden kurzzeitig getrennt. Im Saal spielt das Gericht den Prozessbeteiligten Videos vor, auf denen Mario S. Kinder sexuell missbraucht. Im Zuschauerraum sind Stimmen zu hören, die entsetzten Gesichter der Schöffen sprechen jedoch Bände. Parallel demonstrieren rund 70 Menschen vor dem Landgericht als Reaktion auf das Urteil von Heiko V.. Damit der Prozess nicht platzt, soll Andreas V. am nächsten Tag an einem separaten Termin vor Gericht erscheinen. Denn zwischen den Verhandlungstagen darf bloß eine Zeitspanne von drei Wochen liegen.

Schiebetermin (2. August) An kaum einem anderen Verhandlungstag ist die Anspannung vergleichbar groß. Andreas V. wird für einen fünfminütigen Verhandlungstermin per Krankentransport aus dem Justizkrankenhaus nach Detmold gebracht. Hätte der Dauercamper es nicht vor Gericht geschafft, wäre der Prozess gegen ihn geplatzt und hätte komplett neu aufgerollt werden müssen. Richterin Anke Grudda macht es kurz und liest Ebay-Kleinanzeigen vor, mit denen Andreas V. Kontakte zu Alleinerziehenden gesucht haben soll.

Genesung? (9. August) Aufatmen unter der Prozessbeteiligten: Andreas V. wird am Wochenende aus dem Krankenhaus entlassen , dem weiteren Verlauf des Prozesses scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Prozesstag 7 (15. August) Erneutes Zittern vor dem Landgericht: Das Verfahren wird zwar gegen beide Angeklagten fortgesetzt, Andreas V. kann sich aber kaum auf den Beinen halten. Es scheint unklar, ob er durchhält. Sein Anwalt teilt mit, dass der 56-Jährige an Gürtelrose leidet, er wird für den Nachmittag, an dem das psychologische Gutachten zu Mario S. gehört werden soll, beurlaubt. Die Gutachterin schätzt den Steinheimer als voll schuldfähig ein und attestiert ihm eine pädophile Störung. Eine Sexualtherapie verspreche keinen Erfolg. &bdquo;Seit 20 Jahren begeht er diese Taten – das sind fest in seiner Persönlichkeit verankerte Verhaltensmuster", erklärt Marianne Miller vor Gericht. Daher könne die Fachärztin nicht ausschließen, dass nicht auch nach einer langjährigen Haftstrafe Gefahr von Mario S. ausgehe.

Prozesstag 8 (16. August) Die Verhandlung kann weitergehen, Andreas V. scheint es besser zu gehen. Gutachterin Marianne Miller hält auch Andreas V. für voll schuldfähig und stellt bei ihm eine pädophile Neigung fest. Außerdem attestiert Miller dem 56-Jährigen eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur. Ob er Kinder über Jahrzehnte einzig aus sexuellem Interesse missbraucht hat, kann die Fachärztin nicht abschließend feststellen. Die Chancen auf einen Therapieerfolg sind laut Gutachten bei Andreas V. äußerst gering. Der 56-Jährige sei höchstwahrscheinlich auch nach langer Haft weiter eine Gefahr für Kinder. Im Anschluss geht es weiter mit den ersten Plädoyers. Die Staatsanwaltschaft fordert 14 Jahre Haft für Andreas V. und zwölfeinhalb Jahre Haft für Mario S. – beide sollen nach Vorstellungen der Staatsanwaltschaft in die anschließende Sicherungsverwahrung. Acht Nebenklagevertreter halten ebenfalls ihre Plädoyers.

U-Ausschuss (21. August) Während der Prozess im vollen Gange ist, hat der Untersuchungsausschuss zum Fall Lügde seine Arbeit aufgenommen. Dieser soll die Rolle der Behörden und Politik klären. Für die Kreispolizei Lippe - sowie alle anderen Behörden in gesamt NRW - endet nun die erste Abgabefrist. Knapp zwei Wochen hatte die Polizei nach Angaben von Polizeisprecherin Laura Merks Zeit dafür, alle Unterlagen zum Fall Lügde zu sammeln und sortiert nach Düsseldorf zu schicken. Keine Mail, kein Dokument darf gelöscht werden.

Ermittler laden ein (29. August) Die EK-Leiter der Ermittlungskommission Eichwald äußern sich zum ersten Mal öffentlich zur Arbeit der vergangenen sechs Monate. Der öffentliche Druck und die Belastungen durch die Vernehmungen der Kinder seien enorm. Die Ermittlungen zum Fall Lügde sollen bis Anfang Oktober abgeschlossen sein.

Prozesstag 9 (30. August) Die übrigen zehn Opferanwälte halten ihre Plädoyers, danach sind die Verteidiger dran. Rechtsanwalt Johannes Salmen fordert für seinen Mandanten zwölf Jahre Haft, sein Kollege Jürgen Bogner beziffert seine Vorstellungen für Mario S. nicht. Von zehn bis 15 Jahren sei alles realistisch, das Geständnis müsse jedoch berücksichtigt werden. Zur Sicherungsverwahrung äußern sich beide Verteidiger nicht, beide sind sich laut eigenen Angaben darüber bewusst, dass diese auf ihre Mandanten zukommt. Sowohl Andreas V. als auch Mario S. verzichten auf ihr Recht für das letzte Wort. Rund 50 Teilnehmer demonstrieren wieder vor dem Landgericht.

Prozesstag 10 (5. September) Die Vorsitzende Richterin Anke Grudda teilt das Urteil mit. 13 Jahre Haft für Andreas V. und 12 Jahre Haft für Mario S. lautet das Strafmaß des Gerichts. Für beide ordnet die Jugendschutzkammer die anschließende Sicherungsverwahrung an. Die LZ berichtete live aus dem Landgericht .

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