Vorsitzender der jüdischen Gemeinde: "Morde in Halle und Kassel waren absehbar"

Detmold. Am 9. Oktober, dem Jom-Kippur-Tag, hat die Polizei beim Vorstandsvorsitzenden der jüdischen Gemeinde Herford-Detmold angerufen: Die Sicherheitsmaßnahmen auch in OWL würden nach den Schüssen von Halle unverzüglich verschärft. Nur einen Tag später musste Professor Matitjahu Kellig im Prozess gegen den Neonazi Sascha Krolzig in Bielefeld als Zeuge aussagen. Es waren bewegende und schlimme Tage für den Detmolder – für die Juden in Deutschland und für seine Gemeinde, aber auch für ihn ganz persönlich.

Herr Kellig, sieben Wochen danach – wie geht es Ihnen?

Matitjahu Kellig: Nicht gut. Angst und Sorge herrschen vor. Die ganze Situation ist unerträglich.

&bdquo;Ich will die Kippa offen tragen können" haben Sie gesagt, als Sie Vorsitzender der jüdischen Gemeinde wurden. Heute ist Ihr Haus gesicherter denn je.

Kellig: Die ganze Situation ist irreal. Vier Wochen lang ist die Polizei jede Stunde vorbeigefahren. Wenn der Hund ’raus musste und das Licht anging, haben die Beamten nachgefragt, ob alles in Ordnung sei. Ich konnte nicht mal den Hund in den Garten lassen! Das ist die Realität in Deutschland. Die Morde in Halle und Kassel waren absehbar – wenn man hingesehen hätte.

Das ist eine harte Einschätzung.

Kellig: Da war dieses Gerede von Gauland und anderen, vom &bdquo;Vogelschiss" oder der &bdquo;Entsorgung in Anatolien" Dieses Sprachvolumen, diese Häme haben gewaltiges Potenzial. Ich bleibe dabei: Die Morde waren absehbar. Ich lebe ja in dieser Situation, sonst hätten wir hier zuhause ja offene Fenster.

Werden Sie konkret bedroht?

Kellig: Ich bin ein so genanntes &bdquo;weiches Ziel". Hassmails oder ähnliches bekomme ich nicht. Aber die Täter von Halle und Kassel kannte vorher auch keiner. Die hatten schön still gehalten. Die Rechten sind subtil vernetzt, es gibt 20.000 gewaltbereite Nazis in Deutschland. Das macht mir Angst.

Aber nun gibt es ein Urteil. Sascha Krolzig ist zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden.

Kellig: Bei der Verhandlung war die körperliche und verbale Gewalt groß. Das muss man sich mal vorstellen, da fragt mich der Anwalt Krolzigs, ob ich mich bedroht fühle! Dabei konnte ich nicht mal im Gericht zur Toilette, ohne dass dort vorher kontrolliert wurde. Die Rechten riefen mir zu, wir sähen uns am 9. November wieder! Jetzt, wo Krolzig ins Gefängnis kommt – ich gehe davon aus, dass die Revision in Hamm verworfen wird – frage ich mich, ob ich einen Märtyrer geboren habe.

Wie wirkt sich dieser zunehmende Antisemitismus auf das Gemeindeleben aus?

Kellig: Die Bewachung ist ja auf ein so genanntes Normalmaß zurückgeschraubt worden. Aber Unsicherheit und Beklemmung ist nach wie vor vorhanden. Aber Antisemitismus und Rassismus müssen von der gesamten Gesellschaft bekämpft werden.

Auch das hatten Sie sich ja im März 2016 vorgenommen.

Kellig: Ich spreche mit allen. In der JVA, im Dialog mit anderen Religionen, bei Führungen durch die Synagoge. Mit Politikern, zu Gedenktagen, mit jungen Polizisten, die mich bewachen. Die Themen müssen in die Familien, in die Nachbarschaften. Es braucht mehr Mut zur Zivilcourage, und es braucht mehr Bildung. Ich fordere Wachsamkeit und Empathie. Unsere Wohlstandsverwaltung geht immer mit der Frage einher: Was trage ich dazu bei?

Und wie ist das Frage- in ein Rufzeichen umzuwandeln?

Kellig: Achtlosigkeit akzeptiere ich nicht. Und ein &bdquo;Ach, wie furchtbar" oder &bdquo;das sind doch alles nur Spinner" als Kommentar zu den Rechten auch nicht. Denn damit baue ich Mauern um mich herum, sehe nicht, was ist. Und: Wir müssen offen sein und das Judentum als das sehen, was es ist: Eine Weltreligion. Kein Mensch käme ja auf die Idee, einen Konzertabend mit Werken katholischer Komponisten zu organisieren. Aber ich wurde gefragt, ob ich einen mit der Musik von jüdischen Komponisten gestalten könne. Diese Klischees zerrupfen die Gesellschaft.

Woher nehmen Sie Ihre Kraft?

Kellig: Das kann ich Ihnen nicht beantworten.

Ich hätte gedacht, Sie antworten &bdquo;von der Familie, von Freunden, aus der Musik..." oder so.

Kellig: Vielleicht hole ich Kraft aus der künstlerischen Vielfalt. Da sind nicht nur die schwarzen und weißen Tasten meines Klaviers. Da sind Malerei und Bildhauerei, und von Konzertreisen kenne ich die ganze Welt. Da repräsentiere ich Deutschland, und unsere Erinnerungskultur ist einmalig. Da bin ich stolz drauf und möchte mich für die vielen Solidaritätsbekundungen aus der Bevölkerung in Zusammenhang mit dem Anschlag in Halle herzlich bedanken. Das zeigt mir: Wir sind nicht allein.

Das Interview führte LZ-Redakteur Martin Hostert

Urteil bestätigt Matitjahu Kellig, 70, ist seit März 2016 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Herford/Detmold. Der emeritierte Professor für Klavier an der Musikhochschule Detmold hatte bei Amtsantritt betont, seine Aufgabe als eine &bdquo;politische Herausforderung" zu sehen: Nur Bildung ermögliche Reflexion, woraus Akzeptanz und Toleranz wüchsen.

Im Dezember 2016 hatte Kellig den OWL-Vorsitzenden der Partei &bdquo;Die Rechte", Sascha Krolzig, angezeigt – dieser hatte ihn als &bdquo;frechen Juden-Funktionär" bezeichnet. Das Amtsgericht Bielefeld verurteilte Krolzig daraufhin im Februar 2018 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung wegen Volksverhetzung und Beleidigung, dieses Urteil bestätigte das Landgericht Bielefeld Anfang Oktober.

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